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    Ein Festtag
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ein Festtag

    Ein ganz besonderer Muttertag im Jahr 1924

    Von Michael Meyns

    „Mothering Sunday“ nennen die Briten den Muttertag, der in früher Zeiten, in denen die Klassenverhältnisse auf der Insel noch viel starrer waren, noch eine weitere Funktion hatte. Denn an diesem Tag wurde Bediensteten ein Tag freigegeben. In erster Linie natürlich, um ihre Mütter zu besuchen – im Fall der Hauptfigur aus „Mothering Sunday“ jedoch für sinnlichere Vergnügen. Basierend auf einer Novelle von Graham Swift, der auch schon die Romanvorlagen für „Das Geheimnis seiner Liebe“ (1992) und „Letzte Runde“ (2001) geschrieben hat, erzählt Eva Husson von Liebe und Verlust, vor allem aber von einem Tag, der ein Leben für immer verändert. Ein in den besten Momenten sinnlicher, flirrenden Film, der die französische Mentalität der Regisseurin mit einem geradezu urtypischen britischen Stoff verknüpft.

    30. März 1924. Es ist Muttertag, ein paar Jahre nach dem Großen Krieg, der auch den Familien der besseren Kreise schwere Verluste zugefügt hat. Die Trauer ist noch immer greifbar, die arrangierten Hochzeiten wirken wie ein verzweifelter Versuch, das Glück zu erzwingen. In dieser Welt lebt und arbeitet Jane (Odessa Young), eine 22-jährige Waise, die bei den Nivens (gespielt von Oscargewinner Colin Firth und Oscargewinnerin Olivia Colman) angestellt ist. Seit Jahren hat sie eine Affäre mit Paul (Josh O’Connor), die nie mehr werden kann, denn Paul stammt aus guten Verhältnissen und soll bald Emma (Emma D’Arcy) heiraten. Doch die Ereignisse dieses einen Tages verändern alles…

    Jane erzählt dem Philosophen Donald ihre Geschichte - und dabei vor allem vom Muttertag im Jahr 1924.

    Gleich mit ihrem 2015 entstandenen Debüt „Bang Gang“, einem wild, wüst, flirrend gefilmten Porträt einer Generation, die für und durch Sex lebt, ließ die ehemalige Schauspielerin Eva Husson aufhorchen. Der Nachfolger „Girls Of The Sun“, der Versuch eines feministischen Kriegsdramas, wurde 2018 gleich in den Wettbewerb von Cannes eingeladen – und fiel dort krachend durch. Weitere drei Jahre später ist Husson zurück in Cannes, diesmal nicht im Wettbewerb, sondern in einer Nebensektion. Und hier ist „Mothering Sunday“ gut aufgehoben – ein Film, der inhaltlich keine Bäume ausreißt, dafür aber vor allem stilistisch große Ambitionen an den Tag legt, die Husson meist auch einlöst. Das Drehbuch schrieb sie diesmal zwar nicht selbst, stattdessen stammt es von Alice Birch („Lady Macbeth“). Trotzdem passt Hussons Sensibilität erstaunlich gut zu der britischen Produktion.

    „Es war einmal“ – so lauten die ersten Worte von Jane, die ihre eigene Geschichte erzählt oder vielmehr aufschreibt, denn aus dem einstigen Hausmädchen ist inzwischen eine Schriftstellerin geworden. Oder wird es erst werden, denn die erzählte Zeit von „Mothering Sunday“ ist nicht mehr als ein besonderer, tragischer Tag. Am Morgen bereitet Jane ihren Herrschaften Tee, am Abend geht sie mit Tränen in den Augen schlafen, dazwischen liegen die Ereignisse, die ihr Leben verändern, die ihr Leben in eine andere Bahn lenken werden. Vor und zurück springt die Handlung, zeigt die erste Begegnung von Jane und Paul, dem einzigen von mehreren Söhnen, die den Großen Krieg überlebten. Seit langen haben sie eine Affäre, treffen sich aber stets im Geheimen, um die Ordnung der nach strengen Sitten und Traditionen funktionierenden feinen Gesellschaft nicht zu stören.

    Das eine alles verändernde Ereignis

    Später, so erfährt man in Vorblenden, wird Jane eine Beziehung mit dem schwarzen Philosophen Donald (Sope Dirisu) haben, zu einer Zeit, als sie längst als Schriftstellerin arbeitet. Drei Ereignisse haben diesen Weg begründet, verrät sie Donald gleich bei der ersten Verabredung: Zunächst ihre Geburt, dann der Moment, an dem ihr eine Schreibmaschine geschenkt wurde – und schließlich… Was das dritte Ereignis war, spricht Jane nicht aus, mehrere Möglichkeiten sind denkbar. Virtuos hält Husson über lange Zeit die Spannung, lässt Zeitebenen ineinanderfließen und evoziert die magischen Momente eines Tages, der in einer Tragödie enden wird.

    Das ist weniger stringentes narratives Kino und mehr eine impressionistische Kollage einer hermetisch verschlossenen Welt, die Jane erst durcheinanderbringt und aus der sie schließlich ausbricht. Der Kontrast zwischen dem intimen Moment, den Jane und Paul teilen, sowie einem gleichzeitig stattfinden Lunch der Herrschaften könnte nicht größer sein: Hier extreme Großaufnahmen, Unschärfen, Sonnenstrahlen und Lichtreflexe auf der nackten Haut, dort ein steifes Zusammensitzen, in einengende Kostüme gepresst, stets den Verlust der Söhne im Kopf. Nicht alle formalen Experimente funktionieren derart ausgezeichnet, bisweilen verliert sich Husson auch in ihren Bildkollagen – da folgen auf zart angedeutete Szenen allzu offensichtliche Metaphern. Doch nach dem enttäuschenden „Girls Of The Sun“ deutet Eva Husson mit „Mothering Sunday“ erneut an, welch großes, gerade visuelles Talent sie ist.

    Fazit: Eva Husson verfilmt mit Graham Swifts „Mothering Sunday“, in dem ein einziger Tag alles im Leben einer jungen Frau verändert, einen typisch-britischen Stoff – erweitert ihn dabei aber um eine flirrende, sinnliche Komponente und formt ihn so zu einer oft emotional-mitreißenden Kollage.

    Wir haben „Mothering Sunday“ bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen.

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