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    Abteil Nr.6
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Abteil Nr.6

    Die Liebe kommt manchmal einfach ungelegen

    Von Jochen Werner

    Um zu entkommen, muss man sich nicht nur ganz sicher sein, wohin man flüchtet, sondern auch, wovor“ – mit diesem Zitat des postmodernen russischen Schriftstellers Viktor Pelewin beginnt der finnische Oscar-Kandidat „Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen, der schon mit seinem Debüt „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ einen bescheidenen, betont zurückgenommenen, sich aber dennoch überraschend hartnäckig in der Erinnerung festbeißenden Film abgeliefert hat. Sein zweiter Film ist nun eine Erzählung, in der sich im Verlauf einer langen Reise immer wieder die Perspektive verändert. Nicht nur auf das, was die Protagonistin Laura (Seidi Haarla) am Ziel vielleicht erwartet, sondern auch auf das, was sie am Ausgangsort zurücklässt. Und auf die, denen sie zwischendurch begegnet.

    So wirklich war es eigentlich auch gar nicht die Idee der Finnin Laura, mit dem Zug die 2.000 Kilometer von Moskau bis ins arktische Murmansk zurückzulegen, um dort die berühmten Kanozero-Petroglyphen zu besichtigen – eine Serie prähistorischer, in den Fels geschabter Wandmalereien, für die sich insbesondere Lauras russische Lebensgefährtin Irina (Dinara Drukarova) zu begeistern scheint. Ganz offen steht Irina allerdings nicht zu ihrer jüngeren Geliebten: Es handele sich um ihre „Mitbewohnerin“, so raunt man sich auf der Abschiedsparty das offene Geheimnis um die Liebesbeziehung der beiden Frauen zu – und geknutscht wird auch nur heimlich in einem zurückgezogenen Winkel.

    Bei einer tagelangen Reise ist es natürlich besonders nervend, wenn sich der andere Abteilgast hemmungslos besäuft und obszöne Witze reißt.

    Ganz generell scheint hier eher etwas zu Ende zu gehen, statt den Anfang von etwas einzuläuten: Irina hat die gemeinsam geplante Reise kurzfristig abgesagt und lässt Laura allein fahren – und diese wiederum wirkt eigentlich die gesamte Party-Sequenz über wie ein Fremdkörper im Rahmen der arroganten Intelligenzija, die sich hier bei der Literaturprofessorin Irina versammelt hat. Eigentlich weiß Laura, die vielleicht Archäologie und vielleicht auch einfach nur so ziellos irgendetwas vor sich hin studiert, also nicht so richtig, was sie in Murmansk eigentlich soll und warum sie sich allein auf diese Reise macht.

    Im Verlauf der langen Zugfahrt und des Films wird sie Dinge erleben, die ihr vielleicht nicht einmal die ersehnten Antworten geben, die ihr aber zumindest nahelegen, ihre Fragen anders zu stellen. Doch bevor es besser wird, muss es wie so oft zunächst einmal schlimmer werden, denn der ungehobelte russische Minenarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov), mit dem sie sich das Schlafabteil teilen muss, ist tatsächlich ein Mitreisender aus der Hölle, der bereits am ersten Abend das Abteil zumüllt, sich hemmungslos mit Wodka betrinkt und Laura mit obszönen Witzen belästigt.

    Auf engstem Raum

    Aber Intimität – ob man sie nun Freundschaft, Liebe oder sonst wie nennen mag, lässt „Abteil Nr. 6“ erfreulich offen – entsteht in den Filmen des finnischen Regisseurs oft unerwartet. Mitunter selbst dann, wenn man sie eigentlich am wenigsten gebrauchen kann. So flatterten die Schmetterlinge in den Bauch des Titelhelden aus Kuosmanens „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ ausgerechnet kurz vor der Chance seines Lebens, mit dem Sieg im Titelkampf um die Boxweltmeisterschaft im Federgewicht zum Helden einer ganzen finnischen Nation aufzusteigen. Wo Mäki sich zwichen Titel und Liebe entscheiden muss, da entstehen erste Annäherungen in „Abteil Nr. 6“ vor allem aus der Leere der Zeit.

    Denn die beiden Reisenden haben schlicht keine andere Wahl, als sich tage- und nächtelang miteinander zu arrangieren – und während Ljoha allmählich sein rücksichtsloses Männlichkeitsgehabe fallenlässt, beginnt auch Laura, dahinter einen durchaus verletzlichen Menschen zu erkennen. Ein wenig überraschend lässt sich diese während eines längeren Zwischenstopps in Petrosawodsk zu einem nächtlichen Ausflug mit einem gestohlenen Auto überreden, um gemeinsam mit Ljoha die Nacht mit viel Wodka bei einer Freundin – einem alten russischen Mütterchen mit einer Katze, aber ohne Balalaika – zu verbringen.

    Der Abstecher zum alten russischen Mütterchen mit Katze ist eine von vielen losen Episoden in "Abteil Nr.6".

    Diese Episode ist letztlich unspektakulär, ebenso wie die meisten anderen, die Kuosmanen an seinem locker gespannten Erzählfaden aufreiht. Es geht hier nicht um bedeutende Erkenntnisse, die zu gewinnen wären, und am Ende auch nicht um die eine große Lebensreise, die alles verändern würde. Mitunter handelt es sich um mikroskopisch kleine Verschiebungen, tastende Bewegungen aufeinander zu oder mitunter auch aneinander vorbei, die am Ende den Eindruck erwecken, dass Laura doch eine andere geworden ist – oder, besser noch, vielleicht endlich ein kleines Stück mehr sie selbst.

    Auf dem Weg dorthin wird ein halbseidener Musiker auf der Gitarre „Love Is All Around“ gesungen haben, ein wichtiges Erinnerungsstück wird für immer verloren gegangen sein, und auch am Ende, in Murmansk, wird zunächst einmal eine Erwartung enttäuscht – bevor sie dann, auf unerwartete Weise und durch einen am Beginn der Reise noch kaum vorstellbaren Akt zwischenmenschlicher Solidarität, gewissermaßen übererfüllt wird. Eine neue Tür tut sich auf, zumindest vorübergehend und einen Spalt weit, und anstelle des den Film eröffnenden Roxy-Music-Songs „Love Is The Drug“ läuft dazu „Voyage Voyage“ – ein Discohit, der schon im letzten Kinojahr in „Das Mädchen und die Spinne“ wiederbelebt wurde und der eindeutig die passendere Hymne für Kuosmanens Film abgibt.

    „Halte nicht an über dem Stacheldraht / Bombardierte Herzen / Schau dir den Ozean an“, singt die französische Sängerin Desireless darin, und der Blick über das arktische Meer ist letztlich das, was am Ende von „Abteil Nr. 6“ Hoffnung macht. Denn die Zukunft bleibt ein unbeschriebenes Blatt – und wir dürfen zum guten Ende vor allem daran glauben, dass Laura fortan ein wenig mehr wagen wird, ihre eigene Geschichte darauf zu schreiben…

    Fazit: „Abteil Nr. 6“ ist ein ganz wunderbarer Reise- und Zugfilm, dessen größte Stärke wohl darin besteht, dass er emotional und narrativ ein Stück weit im Ungefähren bleibt und nie so ganz der Gefahr erliegt, bloß die erwartbaren Arthouse-Klischees auszubuchstabieren. Visuell und atmosphärisch ungemein stimmig und von zwei großartigen Hauptdarsteller*innen getragen, ist es durchaus nicht auszuschließen, dass er ebenso wie Kuosmanens Kinodebüt „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ ebenfalls noch lange in lebendiger Erinnerung bleiben wird.

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