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    15 Jahre
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    15 Jahre

    Kult-Klavierspielerin Jenny ist zurück – und immer noch sehr, sehr wütend!

    Von Gaby Sikorski

    Daran, dass Franchises wie „Indiana Jones“, „Ghostbusters“ oder „Star Wars“ auch nach vieljähriger Pause plötzlich doch noch fortgesetzt werden, haben wir uns längst gewöhnt. Aber dass ein deutsches Arthouse-Drama nach eineinhalb Jahrzehnten ein spätes Sequel bekommt, das ist dann doch eine kleine Sensation an sich: Die junge Hannah Herzsprung hatte bereits einige TV-Erfahrungen gesammelt, als sie sich für die Hauptrolle der Jenny in Chris Kraus‘ geplantem Kinofilm „Vier Minuten“ (2006) bewarb. Sie wollte diese Rolle unbedingt und behauptete deshalb beim Casting, dass sie gut Klavierspielen könne, obwohl dies überhaupt nicht der Wahrheit entsprach. Tatsächlich wird ihr in dem längst zum Kultfilm avancierten Drama, das auch für Hannah Herzsprung zum Karriere-Booster wurde, aber wohl eh kaum jemand auf die Hände geschaut haben – dafür ist das Gesicht der von den eigenen Dämonen geplagten Klaviervirtuosin viel zu ausdrucksstark.

    Zunächst von Verleihern und der Berlinale verkannt, musste „4 Minuten“ zunächst in China (!) Erfolge feiern, bevor er auch in Deutschland ein Kinohit wurde – und inzwischen auch auf Netflix zu sehen ist: Erzählt wird darin die Geschichte einer jungen Klaviervirtuosin, die aufgrund ihrer Aggressionsschübe zwar tatsächlich absolut unberechenbar ist, aber trotzdem unschuldig als Mörderin im Knast sitzt, nachdem sie die Tat zum Schutz ihres Freundes gestanden hat. Hinter Gittern entwickelt sich langsam eine gewisse brüchige Vertrauensbeziehung zu der Klavierlehrerin Traude Krüger, ebenfalls grandios gespielt von der inzwischen verstorbenen Monica Bleibtreu. In „15 Jahre“ später ist auch Jenny 15 Jahre älter – und die ebenfalls von Chris Kraus („Die Blumen von Gestern“) geschriebene und inszenierte Fortsetzung hat erneut unbedingt das Zeug zum Arthouse-Kulthit.

    Wild Bunch Germany
    Zwischen Jenny (Hannah Herzsprung) und dem Klavier besteht eine Hassliebe, die in „15 Minuten“ immer wieder für gnadenlos emotionale Momente sorgt.

    Mittlerweile wurde das ehemalige Wunderkind Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) aus dem Gefängnis entlassen. Aus dem wilden Mädchen ist eine erwachsene Frau geworden, doch ihre Wut ist ungebrochen. Zu den Traumata, die sie mit sich herumträgt, gehört auch, dass sie ihr Baby bei der Geburt verloren hat. Was sie damals mit Traude Krüger bei dem Klavierwettbewerb erlebte, blieb offenbar eine unbedeutende Episode. Jenny lebt jetzt in einer christlichen therapeutischen Wohngemeinschaft unter Leitung der religiös angehauchten Psychologin Frau Markowski (wunderbar vielschichtig: Adele Neuhauser). Ihr neues Zuhause ist eine alte Villa, über deren Eingang der Slogan „Jesus liebt dich“ prangt. Hannah hat einen Job als Reinigungskraft ausgerechnet in jenem Konservatorium, in dem sie als kleines Mädchen selbst unterrichtet und gefeiert wurde. Harry (Christian Friedel), der sie früher schon bewunderte, ist dort als Musiklehrer beschäftigt – und kann gar nicht glauben, dass Jenny nicht mehr spielt.

    Harry hat auch gleich eine Idee: Jenny soll gemeinsam mit dem syrischen Flüchtling Omar (Hassan Akkouch) in einer Casting-Show auftreten. Eine Art „Deutschland sucht den Superstar“ speziell für Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Als Moderator fungiert der Popstar Gimmemore (Albrecht Schuch), in dem Jenny sofort ihren ehemaligen Lover wiedererkennt, für den sie einst ins Gefängnis ging. Der ist nun also reich und berühmt … und Jenny sinnt auf Rache! Die zynische TV-Show könnte ihr dafür die richtige Bühne bieten, allerdings müsste sie dafür wieder Klavier spielen. Doch mit dieser späten Revanche würde sie wohl endgültig ihr ganzes neues Leben ruinieren…

    Ein (schon wieder!) genialer Soundtrack

    Chris Kraus hat mit „15 Jahre“ weniger eine direkte Fortsetzung von „Vier Minuten“ geschaffen, sondern ein eigenständiges, tiefgründiges Werk, das für sich selbst steht: kraftvoll, komplex und hochemotional! Dazu trägt auch der geniale Soundtrack bei, den wieder Annette Focks komponiert hat, diesmal mit Unterstützung des Singer-Songwriters Max Prosa. Vielleicht wird die spannungsreiche Atmosphäre diesmal sogar noch stärker über die Musik beeinflusst als in „Vier Minuten“. Das gilt auch für die einfallsreiche Bildgestaltung (Daniela Knapp) mit ab und an überraschenden Kameraperspektiven. Der sehr gute Bildschnitt (wieder Uta Schmidt) schafft mit gelegentlichen kurzen Flashbacks eine leicht geheimnisvolle, manchmal unwirkliche Stimmung.

    Die Geschichte selbst, die Charaktere und der beinahe an ein antikes Drama erinnernde (Rache-)Plot mit seinen schicksalhaften Begegnungen und Verstrickungen – all das ist sehr bewegend, ohne dass dabei zu sehr auf die Tränendrüsen gedrückt würde. Auch diesmal erliegt Chris Kraus nicht der Versuchung, die Handlung in Richtung Kolportage abdriften zu lassen, was angesichts der vielfältigen Herausforderungen, denen die Hauptpersonen gegenüberstehen, durchaus möglich gewesen wäre. Denn nicht nur Jenny wird immer wieder von ihrer Vergangenheit und von ihrem Unglück eingeholt.

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    In dem Popstar Gimmemore (Albrecht Schuch) erkennt Jenny ihren Ex wieder – und sinnt fortan auf Rache!

    Tatsächlich muss man „Vier Minuten“ nicht zwingend gesehen haben, um die Geschichte zu verstehen. Hannah Herzsprung scheint in ihrer Rolle vollkommen aufzugehen, sie taucht förmlich ein in diese Figur und hängt sich Jennys Schicksal mit großer Selbstverständlichkeit um wie einen kratzigen Wintermantel, den sie erträgt, weil sie keinen anderen hat – und den sie deshalb auch nicht missen will. Sie leidet nicht offenkundig, sie wehrt sich oder versucht sich zu wehren, gegen die Dämonen, die in ihr wüten, gegen die Gefühle, die sie nicht kontrollieren kann, gegen eine Welt, die sie nicht versteht. Und Hannah Herzsprung spielt zum Niederknien gut: In Bruchteilen von Sekunden wechselt sie die Stimmungen, sieht plötzlich aus wie ein kleines Mädchen, dann wie ein müdes, altes Weib oder wie eine wütende Nemesis. Es gelingt ihr scheinbar mühelos, die eigentlich nicht besonders sympathische Jenny doch irgendwie liebenswert zu machen – vielleicht möchte diese Frau auch einfach nur ihre Ruhe haben.

    Sobald Jenny jedoch in die Nähe einer Eisenstange kommt, besteht höchste Gefahr für ihre gesamte Umgebung. Ihr Aggressionspotential ist ebenso überwältigend wie ihre Freude in den kurzen, glücklichen Momenten, die sie manchmal zu überfallen scheinen wie ein unerwarteter, aber willkommener Regenguss im Hochsommer. Die Musik ist für sie Therapie und Herausforderung, das Klavier ist ihr gleichzeitig Freund und Gegner. Und so geht es ihr auch mit den Menschen um sich herum. Albrecht Schuch („Im Westen nichts Neues“) spielt mit lässigem Charisma und dennoch sensibel den Popstar Gimmemore, der verantwortlich ist für ihr versautes Leben und sich plötzlich in Jennys Fadenkreuz wiederfindet. Ganz großartig ist auch Hassan Akkouch, der als einarmiges Kriegsopfer eine unermüdliche Freundlichkeit ausstrahlt und mit seinem schweren Schicksal ganz anders umgeht als die wütende Jenny. Die große Frage bleibt aber: Kann Jenny endlich mit sich Frieden schließen?

    Fazit: Hannah Herzsprung spielte sich als zornige junge Frau in „Vier Minuten“ zum Star, „15 Jahre“ später wird sie endgültig zur Schauspiel-Ikone – grandios! Das erstaunlich epische Drama liefert neben durchweg herausragenden Darstellerleistungen viel Stoff für eine Auseinandersetzung mit zeitlosen Themen wie Rache und Gnade oder die Akzeptanz des Unabänderlichen. Passend dazu steht das Zitat des buddhistischen Psychologen Jack Kornfield als Motto über dem Film: „Vergebung bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben.

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