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    Sieger sein
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sieger sein

    Auf Augenhöhe oder Warum man für den Lehrer nicht aufstehen sollte

    Von Christoph Petersen

    Die Idee von Schule im deutschen Familienkino hat sich in den vergangenen 100 Jahren kaum verändert, die Realität an vielen Schulen hingegen sehr wohl. Deshalb ist etwa die megapopuläre „Die Schule der magischen Tiere“-Reihe längst nicht nur deshalb dem Fantasy-Genre zuzuordnen, weil darin sprechende Schildkröten und Pinguine vorkommen. Stattdessen wirkt schon der beschriebene Schulalltag oft wie von einem fremden Planeten. Wenn man näher an die Realität heranwill, dann muss man fast schon zwangsläufig auf – wirklich tolle und trotz der ständigen Bildungsschreckensmeldungen erstaunlich viel Mut stiftende – Dokumentationen wie „Herr Bachmann und seine Klasse“ oder „Favoriten“ zurückgreifen.

    Spielt ein Film an einer „Problem“-Schule (und heißt nicht gerade „Fack ju Göhte“), dann wird am Ende auch ein Problemfilm daraus – und die will niemand sehen. Vielleicht ist das der Gedankengang, der hiesige Produzent*innen lieber in jahrzehntelang erprobten Klischees verharren lässt. Aber das erscheint nicht nur gefährlich kurzgegriffen, die kurdisch-deutsche Regisseurin Soleen Yusef („Haus ohne Dach“) zeigt mit ihrem zweiten Kinofilm „Sieger sein“ auch, wie man den Spagat zwischen Augenhöhe und Spaßhaben sehr wohl hinbekommen kann. Gleich der erste gesprochene Satz der jungen Protagonistin lautet: „Ja, ich bin ein scheiß Flüchtling“ – und am Ende drückt man beim finalen Match so viel fester die Daumen als beim x-ten nach Schema F abgespulten „Die wilden Kerle“-Fußball-Schmarrn.

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    In ihrer neuen Klasse ist Mona (Dileyla Agirman) die einzige, die aufsteht, wenn der Lehrer ihren Namen aufruft.

    Nach der Flucht ihrer Familie aus Syrien nach Berlin, hat Mona (Dileyla Agirman) ihren ersten Tag an einer Grundschule im Wedding, die u. a. für ihren besonders hohen migrantischen Anteil (in skandalisierenden Berichten dann gerne auch verfälschend „Ausländeranteil“) berühmt-berüchtigt ist. Als Neue wird sie von ihren Mitschüler*innen gemobbt – und erst als sie in der Pause einen Ball aufs Tor zimmert, erhält sie kurzzeitig so etwas wie Respekt. Der extrem engagierte Herr Che (Andreas Döhler) sieht darin eine Chance, sie in die Mädchen-Schulmannschaft aufzunehmen – und sie so womöglich besser in den Klassenverband zu integrieren. Doch Mona lehnt ab. Der Verdacht des Lehrers: Womöglich verbieten Monas Eltern ihrer Tochter aus religiösen oder kulturellen Gründen das Fußballspielen.

    Aber Pustekuchen! Mutter Sabri (Halima Ilter) ist im Gegenteil sogar ganz begeistert von der Idee – in ihrer syrischen Heimat in der autonomen Region Rojava habe Mona schließlich auch immer den ganzen Tag lang auf der Straße gekickt. Stattdessen möchte die Elfjährige deshalb nicht ins Team, weil sie der Sport an ihr Zuhause und vor allem an ihre geliebte Tante Helin (Hêvîn Tekin) erinnert, die sich dem bewaffneten Widerstand gegen Diktator Assad angeschlossen hat. Aber nachdem sich Mona doch noch für die Mannschaft entschieden hat, fangen die eigentlichen Probleme erst an: Die Jungs haben nämlich Angst, dass die Mädchen beim anstehenden Turnier den größeren Pokal gewinnen könnten, was in einem Kreislauf gegenseitiger, zunehmend zerstörerischer Streiche mündet…

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    Mona war schon in ihrer syrischen Heimat eine absolute Fußball-Fanatikerin.

    Wenn Herr Che zu Beginn der Stunde die Anwesenheit der Schüler*innen abfragt, ist Mona die einzige, die sich erhebt, sobald ihr Name genannt wird – so hat sie es schließlich in ihrer Heimat gelernt. Und als jemand, der mit deutschen Schulfilmen aufgewachsen ist, habe ich mir natürlich sofort gedacht: Okay, am Ende des Films wird sich die ganze Klasse von ihrer neuen Mitschülerin diesen Respekt vor dem Lehrkörper abgeschaut haben, um sich schließlich in einem ergreifenden „Der Club der toten Dichter“-Moment gemeinsam für ihren geliebten Lehrer zu erheben. Aber nochmal Pustekuchen! Statt sich darüber zu freuen, verlangt Herr Che von Mona, dass sie bitte sitzenbleiben möge – Aufstehen gehöre in eine Diktatur, in einer Demokratie aber ist Augenhöhe angesagt.

    Natürlich stößt auch Herr Che irgendwann an seine Grenzen – etwa beim Umgang mit seinem eigenen Sohn Harry (Rankin Duffy), der ihm fremder und ferner erscheint als die allermeisten seiner Schüler*innen. Aber das ändert nichts daran, dass er – auch dank des scheinbar endlos empathischen Spiels von Andreas Döhler („Echo“) – absolut das Zeug zu unserem neuen Kino-Lieblingslehrer hat. Und mit genau der von Herrn Che eingeforderten Augenhöhe begegnet auch „Sieger sein“ seinen kindlichen Protagonistinnen – die Ecken der Schulflure sind dreckig, die Mädchen-Vs-Jungs-Zerstörungsspirale tut beim Miterleben schon auch weh, im Syrienkrieg wird tatsächlich auch gestorben. Es wird nichts beschönigt, aber auch nichts skandalisiert – und solche Ehrlichkeit ist im deutschen Kinderkino noch immer ein seltenes Gut.

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    Der unglaublich empathische Herr Che (Andreas Döhler) setzt sich mit allen Mitteln für seine Schüler*innen ein – aber mitunter gerät selbst er an seine Grenzen.

    Wie viel in „Sieger sein“ an Themen und Ideen drinsteckt, merkt man, wenn nach dem Abspann die für einen Familienfilm doch sehr beachtliche Laufzeit von 119 Minuten vergangen ist. Aber von dieser (Über-)Länge hat man beim Schauen zum Glück kaum was mitbekommen, denn „Sieger sein“ fühlt sich eben nie Message-mäßig bedeutungsschwanger an, sondern ist durchgehend involvierend und mitreißend geraten – und das sogar, ohne in den Fußballszenen unnötig zu übertreiben, weshalb der entscheidende Moment auch kein Traumtor, sondern ein gehaltener Siebenmeter ist. Und der war noch nicht mal besonders stark geschossen.

    Fazit: „Sieger sein“ wurde unter anderem von der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gefördert. Da können wir nur sagen: Mission vollumfänglich erfüllt – und mit Herrn Che gibt es gleich noch einen neuen Lieblings-Kino-Lehrer obendrauf!

    Wir haben „Sieger sein“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm der Jugendfilm-Sektion „Generation“ gezeigt wurde.

    PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten Vorurteil vom „lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Sieger sein“ ist unsere Wahl für den April 2024.

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