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    20.000 Arten von Bienen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    20.000 Arten von Bienen

    Lucias Kleid

    Von Christoph Petersen

    Erst vor zwei Monaten haben Regisseur Hüseyin Tabak und sein Drehbuchautor/Hauptdarsteller Florian David Fitz mit „Oskars Kleid“ eine Komödie über das Trans-Mädchen Lilli, die gern ein Kleid zur Schule tragen und von ihrem Polizisten-Papa nicht länger bei ihrem Geburtsnamen Oskar angesprochen werden möchte, erfolgreich in die deutschen Kinos gebracht. Nun läuft mit „20,000 Species Of Bees“ ein Film im Wettbewerb der Berlinale, der nicht nur thematisch sehr ähnlich gelagert ist, sondern auch noch mit einem fast identischen Finale aufwartet.

    Naturgemäß ist das Spielfilmdebüt von Estibaliz Urresola Solaguren dabei als – wenn auch sommerliches - Arthouse-Drama sehr viel ernsthafter erzählt und ambitionierter inszeniert. Und trotzdem bleibt die deutsche Komödie ihrer spritzigen Leichtigkeit zum Trotz der überzeugendere Film zum Thema: „20,000 Species Of Bees“ tritt einfach zu lange zu behäbig auf der Stelle und macht dann ausgerechnet an dem Punkt Schluss, wo es eigentlich gerade erst so richtig interessant wird. Zumindest eine Sache, die direkt mit den titelgebenden Bienen zusammenhängt, gelingt der katalanischen Regisseurin aber trotzdem besser als in „Oskars Kleid“.

    Den Geburtsnamen Aitor findet es doof – und so steht das achtjährige Kind im Zentrum von „20,000 Species Of Bees“ erst einmal ohne Namen dar.“

    Mit den zwei älteren Geschwistern und Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) besucht Aitor (Sofía Otero) Großmutter Lita (Itziar Lazkano) in einem katalanischen Dorf. Hier soll in zehn Tagen die Taufe einer Cousine stattfinden. Aber Aitor will am liebsten heute als morgen einen neuen Namen. Ob im Schwimmbad oder im Shoppingcenter – es wird schnell klar, dass sich das achtjährige Kind selbst als Mädchen fühlt. Aber während sich die eher erfolglos ihrem Künstlervater nacheifernde Mutter zwar nicht weiter an dem auffälligen Benehmen stört, es aber im selben Moment als bloße Phase abtut, drängt die religiöse Oma gar darauf, „ihm“ endlich mal vernünftig die Haare zu schneiden.

    Nur Großtante Lourdes (Ane Gabarain), die sich um die seit Generationen in der Familie befindliche Bienenzucht kümmert, macht sich die Mühe, dem Kind tatsächlich einfach mal zuzuhören. Als es darum geht, welches Familienmitglied wohl welche Rolle in einem Bienenstaat übernehmen würde, gibt es für Aitor nur eine Antwort – die der Königin natürlich. Und während die Erwachsenen weiter unwillig, überfordert oder auch einfach nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, sucht sich Aitor einfach selbst einen neuen Namen – und wird ausgerechnet in der Kirche bei einem Porträt der Heiligen Lucia fündig…

    Es ist immer klar, um welche Perspektive es hier geht

    Es fällt schon auf der Hinfahrt im Zug auf: Immer wenn die Hauptfigur im Bild zu sehen ist, begibt sich die Kamera konsequent auf ihre Augenhöhe. Besonders prägnant ist das, wenn sie zwischen mehreren Erwachsenen steht – dann sind diese meist nämlich bereits in Höhe der Brust abgeschnitten, ihre Köpfe nicht zu sehen. Zwar hören wir die meiste Zeit der Mutter, der Großmutter und den Tanten dabei zu, wie sie ihre – lange vergrabenen – Konflikte austragen. Aber am Ende geht es in „20,000 Species Of Bees“ überhaupt gar nicht darum, dass die Erwachsenen dazulernen und Einsicht zeigen – es geht vielmehr allein darum, dass Lucia versteht, was sie will, und eine dementsprechende Entscheidung fällt.

    Deshalb geht „20,000 Species Of Bees“ im Finale – aller auffälliger Parallelen zum Trotz – auch noch einen entscheidenden Schritt weiter als „Oskars Kleid“: Achtung: Spoiler In beiden Filmen läuft die Protagonistin am Ende davon – und die Erwachsenen rufen zunächst ihren Geburtsnamen, bis sie schließlich verstehen, dass sie ihren selbstgewählten Namen verwenden müssen, wenn sie eine Chance haben wollen, sie wiederzufinden. Aber in „20,000 Species Of Bees“ führt auch das nicht zum Erfolg. Stattdessen ist es die Achtjährige ganz allein, die sich mit einem alten familiären Geburtsritual selbst bei den Bienen als Lucia vorstellt. Spoiler Ende

    Nur bei den Bienen ihrer Tante kann Lucia (Sofía Otero) wirklich sie selbst sein.

    Bis dahin zieht sich „20,000 Species Of Bees“ allerdings mitunter ganz schön hin. Von der strengen und gläubigen Großmutter, die mit Lucias Wünschen nun gar nichts anfangen kann, bis zur bienenzüchtenden Großtante, die schon im Umgang mit ihren Tieren viel Geduld gelernt hat, sind die Nebenfiguren schnell durchschaut – und dann einfach nicht mehr interessant genug, um mit ihnen auch abseits der Szenen mit Lucia Zeit verbringen zu wollen. Ähnlich ist es mit den Momenten, in denen Lucias Entscheidung, ein Mädchen zu sein, erst subtil und dann zunehmend immer deutlicher angedeutet wird.

    Dieser Teil nimmt nämlich gut zwei Drittel des Films ein – nur weiß das Publikum im Gegensatz zu Lucias Familie natürlich schon nach ein paar Minuten, was Sache ist. Es gibt auch hier herausstechende Momente, etwa in den Szenen zwischen Lucia und einer etwa gleichaltrigen Spielgefährtin aus dem Dorf, dass sie ganz selbstverständlich auch dann noch als Mädchen akzeptiert, nachdem sie sie einmal nackt gesehen hat. Aber vieles sind auch die üblichen Standartszenen, wenn es Stress gibt, weil Lucia sich in der Damenumkleide umziehen oder beim Klamottenkaufen für die Taufe ein Kleid anprobieren will. Und diese sind es nicht unbedingt wert, dass „20,000 Species Of Bees“ dafür eine gute Stunde lang im Beinahe-Stillstand verharrt.

    Fazit: „20,000 Species Of Bees“ ist schön fotografiert und stark gespielt – liefert aber erst einmal zwei Drittel lang wenig Neues, bevor er im letzten Drittel, wenn Lucia ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nimmt und die herzzerreißende Frage stellt, warum eigentlich jeder weiß, wer er ist, nur sie nicht, doch noch mal spürbar anzieht.

    Wir haben „20,000 Species Of Bees“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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