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    Femme
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Femme

    Rache-Noir mit einer Dragqueen als Femme fatale

    Von Lutz Granert

    Als schillernde Paradiesvögel, die mit Geschlechteridentitäten spielen und so die traditionellen Grenzen verwischen, erfreuen sich Auftritte von Dragqueens längst nicht nur bei der queeren Community großer Beliebtheit. Trotzdem oder gerade deswegen werden sie immer wieder Opfer von LGBTQ+-feindlicher Gewalt – wie etwa die im Februar 2022 mit Reizgas attackierte Frankfurter Dragqueen Electra Pain. Darauf folgten auch noch jede Menge gehässige Kommentare, die sie – versehen mit dem Hinweis, dass ihr trotz ihres auffälligen Aussehens ein diskriminierungsfreies Leben zustehe – mit ihren mehr als 400.000 Follower*innen auf TikTok teilte.

    Auch der Fernsehautor Sam H. Freeman und der Theatermacher Ng Choon Ping kennen solche Vorfälle aus ihrem Umfeld – und verarbeiteten diese zu einem Skript für einen abendfüllenden Spielfilm. Allerdings wurde den beiden Briten zunächst nur die Finanzierung eines Kurzfilms zugesagt, da man sich erst noch von den Fähigkeiten der beiden Filmdebütanten ein klares Bild machen wollte. Freeman und Choon Ping lieferten: Der Kurzfilm „Femme“ um eine Dragqueen, die trotz vorheriger Warnungen bei einem dubiosen Drogendealer ins Auto steigt und auf einen überraschenden Trip durch die Nacht begleitet, lief 2021 vielbeachtet auf zahlreichen Filmfestivals. So war der Weg frei für den ebenso spannenden wie abgründigen und nuanciert gespielten Noir-Thriller „Femme“.

    Jules (Nathan Stewart-Jarrett) wird nach einem seiner Dragqueen-Auftritte Opfer einer ebenso feigen wie brutalen Attacke.

    Jules (Nathan Stewart-Jarrett) tritt regelmäßig in einem Nachtclub als Dragqueen unter dem Namen Aphrodite Banks auf. Bei einer Raucherpause macht er die flüchtige Bekanntschaft des dubiosen Preston (George MacKay), den er später – nun allerdings zusammen mit einer Bande von Möchtegern-Gangstern – beim Einkaufen wiedertrifft. Nach einer kecken Bemerkung schlagen die homophoben Rowdies den noch nicht abgeschminkten Jules in einer dunklen Straßenecke zusammen.

    Traumatisiert von dem Vorfall, sagt Jules weitere Auftritte ab und traut sich erst drei Monate später wieder in die Öffentlichkeit. Beim Besuch einer Schwulensauna trifft er unverhofft den nicht geouteten Preston wieder, der ihn jedoch nicht erkennt. Ebenso verängstigt wie von Rachegelüsten getrieben, beginnt Jules eine Affäre mit seinem Peiniger – in der Hoffnung, Preston beim Sex filmen und dieses Video dann zu seiner Entlarvung auf einem Pornoportal hochladen zu können. Doch schon bald entwickeln sich – bei beiden? – ungeahnte Gefühle...

    In "Street Fighter" macht dieser Dragqueen keiner etwas vor

    Sam H. Freeman und Ng Choon Ping wohnten eine Zeitlang zusammen und verbrachten nach eigenem Bekunden ganze Sommer damit, auf der PlayStation Games zu zocken. Kein Wunder also, dass ein packendes, mit wummernden Beats unterlegtes „Street Fighter“-Prügelturnier zwischen Prestons Freunden und Jules, der sich so seinen Respekt erdaddelt, eine Schlüsselszene in „Femme“ darstellt. Der Film kreist dabei immer wieder um die Themen Toleranz und Akzeptanz von Personen und Lebensentwürfen. Die traditionellen Rollenbildern zugeschriebenen Machtverhältnisse beginnen sich dabei langsam zu verschieben. Betont der aggressiv-prollige Preston, der Jules bei einem ersten Date fernab von schnellem Outdoor-Sex gönnerhaft in ein schickes Restaurant einlädt, anfangs noch seinen Status als dominantes „Alphamännchen“, so bröckelt seine raue (und damit auch seine heterosexuelle) Fassade immer mehr, je länger die natürlich streng geheim gehaltene Beziehung andauert.

    Diametral entgegengesetzt lässt der sanftmütige Jules nach anfänglichen Panikattacken bei der Wiederbegegnung mit seinem Peiniger seine Passivität immer mehr hinter sich. Abseits seiner körperlichen Stärke setzt er – quasi als schwule Antwort auf die klassischen Femme fatales - diabolisch das Mittel der Verführung ein, um die Kontrolle um den ihm bald schon regelrecht hörigen Preston zu gewinnen. Bei diesen Verschiebungen lebt „Femme“ vor allem vom ebenso authentisch anmutenden wie nuancierten Spiel seines Hauptdarsteller-Duos, das von George MacKay („1917“) und Nathan Stewart-Jarrett (bekannt als Zeitmanipulierer der unkonventionellen britischen Superhelden-Serie „Misfits“) wirklich kongenial verkörpert wird.

    Ein Neo-Noir in der LGBTQ+-Spielart

    Das Setting an Originalschauplätzen im (weitgehend) nächtlichen London attestiert „Femme“ ein großes Maß an Realismus, die bewegliche Kameraarbeit von James Rhodes verleiht dem Geschehen große Unmittelbarkeit – auch wenn gerade bei den brutalen, verwackelten Prügeleien die Übersicht bisweilen verloren geht. Sam H. Freeman und Ng Choon Ping konzentrieren sich ganz auf die Dynamik der Paarbeziehung, wobei auch die Milieuzeichnung hinter den Kulissen der glitzernden, zuweilen stilisiert inszenierten Dragqueen-Auftritte nicht zu kurz kommt.

    „Femme“ kann also durchaus als eine gelungene LGBTQ+-Spielart eines Neo-Noir-Thrillers verstanden werden – bei dem übrigens kaum auffällt, dass der Plot der eigenen Kurzfilm-Vorlage hier noch einmal gründlich umgearbeitet wurde (was wohl auch dem zwischenzeitlichen Erfolg des drastischen Dramas „Animals – Wie wilde Tiere“ geschuldet ist, der mit einer ausufernden schwulenfeindlichen Autofahrt einen ähnlichen Plot aufweist wie der „Femme“-Kurzfilm).

    Fazit: Ein packender Noir-Thriller mit Dragqueen-Femme-fatale, der mit einer authentischen Milieuzeichnung, einem fokussierten Plot sowie zwei verdammt stark aufspielenden Hauptdarstellern punktet. Ein verdammt souveränes Spielfilmdebüt des britischen Regie-Duos.

    Wir haben „Femme“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.

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