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    Nuclear Now
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Nuclear Now

    Ist Atomkraft die letzte Chance für die Menschheit?

    Von Christoph Petersen

    Ich habe keine besonders feste Meinung zur Frage Atomkraft ja oder nein. Aber wenn ausgerechnet der dreifach oscarprämierte Sozialismus-Spezi („Looking For Fidel“) und Verschwörungs-Vorreiter („JFK Revisited“) Oliver Stone eine Pro-Atomkraft-Doku ankündigt, dann bin ich von der Idee zumindest fasziniert. Da scheint schließlich alles möglich – im „besten“ Fall sogar eine pathetische Propagandashow, die einem mit allen manipulativen Mitteln der Film- und Debattenkunst den diskursiven Boden unter den Füßen wegzieht. Das wäre zumindest spannend gewesen und man hätte sich hinterher schön drüber auskotzen können.

    Aber Pustekuchen! „Nuclear“ erweist sich als 105-minütiger Atomkraft-Werbefilm, der zwar einige Verschwörungsmythen vorsichtig streift und auch argumentativ hier und da ziemlich offensichtlich schummelt, aber es wird nie so empörend, dass man sich wirklich darüber aufregen könnte/sollte. Stattdessen ist die weitestgehend aus Archivmaterial, fragwürdig aufbereiteten Statistiken und Interviews mit einseitig ausgewählten Gesprächspartner*innen zusammengesetzte Dokumentation über weite Strecken einfach nur ziemlich öde, bevor es erst auf der Zielgeraden doch noch mal ein wenig interessanter wird.

    Werbefilm mit Wikipedia-Wissen

    Gerade die erste halbe Stunde über die Geschichte der Nuklearforschung seit der Entdeckung der Radioaktivität durch Antoine Henri Becquerel, Marie Curie und Pierre Curie in den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts wirkt wie ein bebilderter Wikipedia-Artikel. Dafür muss man nun wirklich nicht ins Kino gehen. Die Reaktor-Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima werden dabei als Grund für den Nuklearausstieg mit der Begründung vom Tisch gewischt, dass es sich jeweils um Atomkraftwerke mit eindeutigen Konstruktionsfehlern gehandelt habe – ohne zu erklären, warum es solch menschliches Versagen nicht auch in Zukunft immer wieder geben sollte.

    Spannender ist da schon das Argument, dass bisher „nur“ etwa 5.000 bis 15.000 Toten durch Strahlungsunfälle jährlich etwa 500.000 Toten durch die Erzeugung von Kohlekraft gegenüberstehen – und dass es deshalb nicht rational sei, mehr Angst vor Nuklearenergie zu haben, nur weil die Vorfälle in diesem Bereich oft so spektakulär seien, während uns tödliche Atemwegserkrankungen durch Luftverschmutzung weniger nahe gehen würden. Quasi wie die Sache mit dem Fliegen, das statistisch auch sicherer ist als Autofahren, aber sich für die meisten von uns trotzdem nicht so anfühlt. So richtig ernstnehmen kann man das alles aber kaum, wenn Stone zur Bebilderung die Aufnahme eines Atomkraftwerks heranzieht, vor dem gerade ein „glücklicher“ Wal aus dem Wasser springt, als würde er seine Zustimmung signalisieren.

    Wer im Glashaus sitzt…

    Der linksliberalen Anti-Atomkraft-Bewegung wirft Stone immer wieder einseitige Angstmacherei vor – aber auch wenn er mit „Nuclear“ einen erstaunlich optimistischen Ausblick in die Zukunft wagt und die Atomkraft sehr selbstbewusst als (einzige wirkungsvolle) Alternative zum Klimawandel darstellt, ist es am Ende er selbst, der hier einseitig agiert: Ob die Pro-Atomkraft-TikTok-Influencerin Isabelle Boemeke oder gar sein Co-Drehbuchautor Joshua S. Goldstein, der trotz eines Abschlusses in „Internationale Beziehungen“ als Atomkraft-Experte auftritt und dann einfach genau die Dinge sagen kann, die der Film gerade braucht, um zum nächsten Punkt zu kommen – hier wird absolut niemand vor die Kamera gelassen, der auch nur ein schlechtes Wort über Atomkraft zu sagen hat.

    Etwas Ähnliches gilt auch für die Statistiken, bei denen Stone entweder verfälschend so mit den Maßeinheiten jongliert, wie es gerade für sein Argument passt (etwa mal CO2-Ausstoss insgesamt, mal CO2-Ausstoss pro Einwohner*in betrachtet) oder auch einfach interessante Informationen weglässt (wenn er Deutschland als einen besonders schlimmen Produzenten von CO2 hinstellt, was auch stimmt, lässt er die Balken der „noch schlimmeren“ Länder unausgefüllt). „Nuclear“ ist voll von solch leicht zu durchschauenden Tricks – und so fragt man sich irgendwann, wen „Nuclear“ eigentlich überzeugen soll?

    Oliver Stone zu Besuch bei einem Atomkraftwerk in der weltweiten Atomkraft-Vorreiter-Nation Frankreich.

    Pro-Atomkraft-Leute brauchen den Film dazu nicht. Anti-Atomkraft-Aktivist*innen werden sich eh nicht von einem Oliver-Stone-Vortrag überzeugen lassen. Und diejenigen in der Mitte, wie eben auch der Autor dieser Kritik, stehen dem Film aufgrund seiner Unsauberkeiten, Einseitigkeiten und der kitschige Wal-Propaganda irgendwann derart skeptisch gegenüber, dass die eigentlich spannenden Punkte im letzten Drittel auch nicht mehr wirklich durchdringen. Dabei ist der Ausblick auf neue Arten von Atomkraftwerken, vornehmlich Mini-Varianten, die sich womöglich sogar in Massenproduktion herstellen ließen, um so Kleinstädte zu versorgen, mit Abstand das Spannendste an „Nuclear“…

    Fazit: „Nuclear“ ist der erwartbar-einseitige Werbefilm für Atomkraft als einzig möglicher Weg für die Zukunft, der zudem lange Zeit als eher langweilige Diashow daherkommt, dann aber gerade im letzten Drittel doch noch einige Denkanstöße liefert, die sich so leicht eher nicht vom Tisch wischen lassen.

    Wir haben „Nuclear“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo er außer Konkurrenz im offiziellen Programm seine Weltpremiere gefeiert hat.

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