Oslo-Stories: LIEBE
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,5
hervorragend
Oslo-Stories: LIEBE

Auftakt zu einer der besten Film-Trilogien aller Zeiten!

Von Jochen Werner

LIEBE, TRÄUME, SEHNSUCHT – so lauten die deutschen Titel der drei „Oslo-Stories“ vom norwegischen Schriftsteller und Filmemacher Dag Johan Haugerud, die im Abstand von wenigen Wochen in die deutschen Kinos kommen. Allerdings hat sich der deutsche Verleih entschieden, die Filme in veränderter Reihenfolge zu veröffentlichen und mit dem chronologisch zweiten Film der Trilogie loszulegen, bevor es dann mit dem Berlinale-Gewinner „Oslo-Stories: TRÄUME“ und dem eigentlich ersten Teil „Oslo-Stories: SEHNSUCHT“ weitergeht. Inhaltlich tut das wenig zur Sache, sind doch die drei Filme jeweils völlig eigenständig und – jedenfalls oberflächlich betrachtet – nur durch den Schauplatz Oslo miteinander verbunden. Interessant ist die Wahl dieser Strategie aber doch: Mit allzu viel „Sex“ – so der Originaltitel des eigentlichen Trilogie-Auftakts, der für das deutsche Publikum überdies in „SEHNSUCHT“ umbetitelt wurde, mochte man das deutsche Publikum zum Auftakt wohl lieber nicht konfrontieren.

Dabei geht es auch in „Oslo-Stories: LIEBE“ zunächst mal vorrangig um ebendies: Sex. Denn nach der großen Liebe suchen die Protagonist*innen Marianne (Andrea Bræin Hovig) und Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) erklärtermaßen nicht. Marianne ist Urologin und arbeitet mit Prostatakrebspatienten, und Tor ist Krankenpfleger und ihr engster Mitarbeiter. Das berufliche Verhältnis wird jedoch sehr vertraut, als sich die beiden auf einer nächtlichen Fähre zwischen Oslo und der Insel Nakkholmen treffen und ins Gespräch über ihr Sexleben kommen. Während Marianne von einem Treffen mit dem geschiedenen Geologen Ole Harald (Thomas Gullestad) kommt, mit dem ihre Freundin Heidi sie aus irgendwelchen Gründen unbedingt verkuppeln will, fährt Tor regelmäßig ziellos mit der Fähre hin und her, um per Grindr Männer kennenzulernen – mal für Sex, und mal einfach nur, um miteinander ins Gespräch zu kommen…

Marianne (Andrea Bræin Hovig) weiß selbst noch nicht so genau, ob das mit dem Geologen Ole Harald (Thomas Gullestad) nun etwas Ernstes ist oder nicht. Alamode Film
Marianne (Andrea Bræin Hovig) weiß selbst noch nicht so genau, ob das mit dem Geologen Ole Harald (Thomas Gullestad) nun etwas Ernstes ist oder nicht.

„Sex ist niemals einfach nur Sex“, erfährt Tor von dem Psychotherapeuten Bjørn (Lars Jacob Holm), den er über die schwule Sex-App kennenlernt, ohne dass dieser jedoch Sex will. Und irgendwie scheinen in diesem Film insgeheim viele etwas anderes zu begehren, als sie womöglich selbst glauben. Am deutlichsten wird das in Gestalt von Heidi, die sich vom zufriedenen, sexuell offenen Singleleben ihrer Freundin Marianne persönlich beleidigt fühlt. Als Marianne ihr von einem sexuellen Abenteuer mit einem verheirateten Mann am nächtlichen Fährhafen erzählt, reagiert Heidi sogar mit heftiger Ablehnung. Dabei schlug sie zuvor selbst noch vor, zur 100-Jahr-Feier der Stadt Oslo etwas mit einer sexuell diversen Interpretation der 1920er-Jahre-Fresken des städtischen Rathauses, in denen sie ein Loblied auf Homosexualität und Gruppensex zu erkennen meinte, zu machen.

Diese Heidi erscheint durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen einer zeitgemäßen sexuellen Aufgeschlossenheit und einer tiefgreifenden persönlichen Verklemmtheit als eine komische Figur – und das kann durchaus als ein kleiner Bruch im Werk von Dag Johan Haugerud verstanden werden. Denn im Kern ist dieser Haugerud ein zwischenmenschlicher Utopist, der immer wieder aufs Neue eine Welt beschreibt, in der wir alle offen miteinander sprechen können. Kommunikation ist alles bei Haugerud, und sie stiftet eine Intimität und Nähe auch zwischen verschiedensten Menschen, die sich prinzipiell stets wohlwollend und verständnisvoll begegnen. Diese Utopie bleibt auch in „LIEBE“ durchaus erhalten – und verleiht vielleicht dem Titel überhaupt erst einen Sinn, denn streng genommen verliebt sich ja überhaupt niemand in diesem Film.

Fürsorge statt Vorwürfe

Marianne verbringt zwar eine Nacht mit Ole Harald, weicht jedoch von ihrem ursprünglichen Entschluss, sich nicht auf eine Beziehung einzulassen, trotzdem nicht ab. Und zwischen Tor und Bjørn beginnt zwar etwas, als der Pfleger seine Zufallsbekanntschaft in der Klinik wiedersieht – und ihm unter Missachtung professioneller Prinzipien seine Hilfe in der schweren Zeit nach der Operation anbietet. Aber was genau es ist, was da entsteht, lässt Haugerud im Prinzip auch offen. Liebe, Freundschaft, Solidarität?

„Care“ wäre vielleicht ein passendes Wort – eines, das Tors Charakter auf den Punkt bringt, lernen wir ihn doch bereits in den ersten Minuten des Films als jemanden kennen, der sehr viel feinere Antennen für die Wahrnehmung der Patienten hat als die eher pragmatische Marianne. Und auch eins, das Haugeruds Weltbild treffend charakterisiert: eine Welt, in der wir allen Unterschieden zum Trotz füreinander Sorge tragen, umeinander bemüht sind und uns das, was uns unterscheiden mag, nicht zum Vorwurf machen.

Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) kümmert sich nach der Prostataoperation um Bjørn (Lars Jacob Holm) – ob aus Fürsorge oder aus Liebe? Vermutlich alles ein bisschen. Alamode Film
Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) kümmert sich nach der Prostataoperation um Bjørn (Lars Jacob Holm) – ob aus Fürsorge oder aus Liebe? Vermutlich alles ein bisschen.

Verbindendes und Unterschiede – das könnte man durchaus als Motto für „Oslo-Stories: LIEBE“ festhalten. Denn auch formal und atmosphärisch gibt es einige Abweichungen im Vergleich zu den anderen beiden Filmen der Trilogie. So ist „LIEBE“ deutlich nächtlicher, wenn er immer wieder in Abendstimmungen schwelgt. Dabei wird die norwegische Hauptstadt erneut zur Hauptdarstellerin, ganz dezidiert etwa, wenn Haugerud das ansonsten zur zeitlichen Strukturierung des Geschehens eingesetzte Stilmittel der Datumseinblendung per Texttafel einmal spielerisch einsetzt, nur um eine von Musik untermalte Nachtaufnahme des Osloer Stadtpanoramas zu zeigen.

Fazit: Sex ist niemals nur Sex, und Liebe kann verschiedene Gestalten annehmen. Mit „Oslo-Stories: LIEBE“ ist erstmals eine der zwischenmenschlichen Utopien des norwegischen Regisseurs Dag Johan Haugerud in den deutschen Kinos zu sehen – die zwei weiteren Filme seiner Trilogie folgen in kurzen Abständen. Man kann ihnen nur großen Erfolg in den deutschen (Programm-)Kinos wünschen, denn derart warmherzige, eigenwillige und durch und durch beglückende Filme von einer ganz originellen, neuen Stimme im europäischen Kino gab es dort schon lang nicht mehr zu entdecken.

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