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    Die Unschuld
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Unschuld

    Alles eine Frage der Perspektive

    Von Christoph Petersen

    Zuletzt unternahm Hirokazu Kore-eda eine kleine filmische Weltreise: Auf den ur-französischen „La Vérité – Leben und lügen lassen“ mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche folgte das in Südkorea gedrehte Wohlfühl-Drama „Broker - Familie gesucht“ mit „Parasite“-Superstar Song Kang-Ho. Nun aber kehrt der „Unsere kleine Schwester“-Regisseur nicht nur in seine japanische Heimat, sondern auch zu einem der zentralen Themen seines Oeuvres zurück: der geheimen Welt der Kinder! In „Monster“ erleben wir die folgenschweren Geschehnisse in den Tagen nach einem Hochhausbrand gleich drei Mal hintereinander – einmal aus der Sicht der Mutter, dann des Lehrers und schließlich des Sohnes. Dabei nutzt Kore-eda die episodische Form, um nicht nur seinen Figuren, sondern auch dem Publikum vorzuführen, wie man speziell unter Druck fast zwangsläufig zu voreiligen Schlüssen springt – und welche fatalen Folgen das haben kann.

    Die Suche nach der Antwort auf die Frage, wer denn nun das titelgebende Monster ist oder ob ein solches womöglich gar nicht existiert, erweist sich dabei dank etlicher mysteriöser Details gerade in den ersten zwei Durchläufen als teilweise spannend wie ein Psycho-Thriller. Erst in der finalen Episode, wenn alles aus der Sicht der Kinder aufgelöst wird, fällt Hirokazu Kore-eda der Puzzle-Charakter seines Films ein Stück weit auf die Füße. Aber selbst das ändert nichts daran, dass der 2018 für „Shoplifters – Familienbande“ mit der Goldenen Palme beim Filmfestival in Cannes ausgezeichnete Regisseur nach zwei ordentlichen, aber nicht herausragenden Filmen mit dem ebenso intensiv-rätselhaften wie eindringlich-berührenden „Monster“ wieder zu alter Stärke zurückfindet.

    PLAION PICTURES

    Saori (Sakura Andô) und ihr Sohn beobachten vom Balkon aus den Hochhausbrand ein paar Straßen weiter.

    Die seit dem Tod ihres Mannes alleinerziehende Saori (besonders grandios: Sakura Andô) ist natürlich schockiert, als ihr etwa zehn Jahre alter Sohn Minato (Soya Kurokawa) nicht nur ganz beiläufig erzählt, dass sein Gehirn mit dem eines Schweines ausgetauscht worden sei, sondern sich kurz darauf auch noch aus dem fahrenden Auto stürzt. Bei der Suche nach möglichen Gründen für das erratische Verhalten stößt Saori auf Anschuldigungen gegen den Lehrer Hori (Eita Nagayama), der Minato nicht nur beleidigt, sondern in mindestens einem Fall sogar geschlagen haben soll. Die Gespräche mit der Schulleitung erweisen sich für Saori allerdings als frustrierend, stößt sie doch auf eine Wand aus geradezu feindseliger Höflichkeit, im Juristen-Japanisch vorformulierten Floskeln und ständigen formell-korrekten, aber im Kern dann doch nichtssagenden Entschuldigungen…

    Wie die japanische Höflichkeit hier regelrecht als (Verteidigungs-)Waffe eingesetzt wird, macht wütend – und zwar nicht nur Saori, sondern auch das Publikum. Zumal die vielen kleinen rätselhaften Geschehnisse, wenn sich Minato etwa scheinbar grundlos die Haaren abschneidet oder kommentarlos mit nur einem Schuh nach Hause kommt, zumindest in der Summe darauf hindeuten, dass hier womöglich sogar noch ein viel schlimmeres Geheimnis lauert. Zusätzlich befeuert werden diese Ängste durch all die schrecklichen Gerüchte, die hier über fast jeden kursieren – so soll etwa die Schulleiterin Fushimi (Yūko Tanaka) versehentlich ihren eigenen Enkel totgefahren, dann aber ihren Mann als Sündenbock dafür ins Gefängnis gesteckt haben. Da ist man sich fast sicher, dass an dieser Schule doch der gesamte Lehrkörper nur aus (Höflichkeits-)Monstern besteht …

    Als Zuschauer*in macht man dieselben Fehler wie die Figuren

    … bis diese Lesart im zweiten Durchlauf zumindest ein Stück weit wieder erschüttert wird. Sowohl Lehrer Hori als auch Schulleiterin Fushimi scheinen nicht nur ebenso unter dem Distanz schaffenden Höflichkeitszwang zu leiden wie Saori – aus ihrer Sicht erscheinen einige der Ereignisse plötzlich auch in einem ganz anderen Licht, vor allem die Sache mit dem angeblichen Schlag ist in Wahrheit wohl ganz anders abgelaufen. Aber wie dem auch sei, die Beschäftigung der Erwachsenen untereinander führt – wie so oft – vor allem dazu, dass die Perspektive der Kinder bei solchen formell-verklebten Auseinandersetzungen allzu schnell unter die Räder kommen. Und ganz ehrlich, auch als Zuschauer*in hat man sich zu diesem Zeitpunkt so sehr darin verloren, dass man sich ebenfalls ertappt fühlen darf …

    … wenn der Regisseur und sein Drehbuchautor Yuji Sakamoto („Crying Out Love In The Center Of The World“) im finalen Drittel schließlich zur Perspektive des Sohnes umschwenken. Der beste Film von Kore-Eda ist der absolut herzzerreißende „Nobody Knows“, die wahre Geschichte von vier Geschwistern, die von ihrer Mutter in einem kleinen Wohnung in Tokyo zurückgelassen werden und sich plötzlich selbst versorgen müssen. Erzählungen aus der Sicht von Kindern, ohne jede falsche Beschönigung, aber immer auf Augenhöhe, sind bis heute die Paradedisziplin von Kore-Eda – und das kommt auch im vor dem Hintergrund eines fürchterlichen Orkans angesiedelten Finale von „Monster“ zum Tragen, wenn sich der Film immer mehr zu einer Kombination aus „Close“ und „Rashomon – Das Lustwäldchen“ entwickelt.

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    Die Kinderdarsteller Soya Kurokawa und Hinata Hiiragi sind eine der größten Stärken von „Monster“.

    Auch dank der zwei herausragenden Kinderdarsteller Soya Kurokawa und Hinata Hiiragi entsteht hier plötzlich ein zutiefst berührendes Porträt einer so ungewöhnlichen wie zarten Freundschaft, das allerdings wohl noch mehr zu Herzen gehen würde, wenn man nur nicht die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, die noch offenen Mysterien in seinem Kopf zusammenzufügen. Einige davon ziehen einem noch mal so richtig den Boden unter den Füßen weg – etwa wenn man plötzlich versteht, welche vermeintlich harmlose Bemerkung wirklich für Minatos Autosprung verantwortlich war. Andere Auflösungen hingegen wirken banal bis konstruiert (etwa die angesprochene Sache mit dem Schuh). Das fühlt sich mitunter an, als seien einige rätselhafte Vorkommnisse überhaupt nur integriert worden, um das Publikum zuvor auf eine falsche Fährte zu locken.

    Fazit: „Monster“ funktioniert zwei Drittel lang ganz hervorragend als faszinierendes Puzzle-Drama, das zugleich wahnsinnig intensiv bestimmte abgründige Seiten der (japanischen) Gesellschaft beleuchtet. In der finalen Episode stört der Mystery-Charakter allerdings eher – denn statt sich im Finale ganz auf das Landen des zentralen emotionalen Punches zu konzentrieren, ist „Monster“ mitunter noch zu sehr damit beschäftigt, die offenen Rätsel aus den zwei vorherigen Durchläufen aufzulösen. Nichtsdestotrotz ein weiterer starker Film von Hirokazu Kore-eda.

    Wir haben „Monster“ im Rahmen des Cannes Filmfestivals 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

     

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