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    Der scharlachrote Buchstabe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Der scharlachrote Buchstabe
    Von Samuel Rothenpieler

    Als die Europäer kamen, um im „gelobten Land“ Amerika eine neue Heimat zu finden, eine Welt, in der sie ihren sittenstrengen puritanischen Glauben ausleben konnten, ohne den säkularen Tendenzen und staatlichen Zwängen des alten Europas ausgeliefert zu sein, glaubten sie, den historisch gewachsenen europäischen Gesellschaften ein Schnippchen zu schlagen. Besser sollte es werden, freier, liberaler und zugleich gottesfürchtiger sollte es zugehen. Sie besiedelten ein Land, das für Neuanfang, Aufbruch und das Gute stand – ihr neues Jerusalem. Der Mensch bekam in dieser Zeit die einmalige Möglichkeit, etwas Neues zu erschaffen, das auf der Grundlage von Jahrtausenden menschlicher Erfahrung die Aussicht hatte, tatsächlich etwas Neues darzustellen. Aber Amerika war nicht das Land, für das die Europäer es hielten. Die Verdrängung, gewaltsame Missionierung und Unterdrückung der Ureinwohner – das wohl neben dem Atombombenabwurf über Japan tragischste Kapitel in der Geschichte der heutigen Vereinigten Staaten – standen für einen Neuanfang unter den falschen Voraussetzungen.

    Nathaniel Hawthorne erzählte in seinem 1850 erschienenen Roman „Der scharlachrote Buchstabe“ von einer amerikanischen Episode, die der europäischen Inquisition in nichts nachstand. Hexenjagd, Läuterung von Menschen, die „anders“ waren und eine verblendete Ideologie eines falschen Christentums, das seine gesellschaftliche Macht für politische Zwecke instrumentalisierte und missbrauchte, gaben Anlass, seine eigene Familienvergangenheit aufzuarbeiten. Heute zählt „Der scharlachrote Buchstabe“ zu den größten amerikanischen Klassikern, der bereits etliche Male verfilmt wurde – in seiner aktuellsten Version mit Demi Moore und Gary Oldman im Jahre 1995.

    1666: Hester Prynne (Demi Moore) hat den weiten Seeweg auf sich genommen, um im „gelobten Land“ eine neue Heimat zu finden. Sie wird schnell fündig und erwirbt ein beträchtliches Anwesen in einer neuenglischen Kolonie. Ihren Mann erwartend, lebt sie sich langsam in das Gemeindeleben ein, wenn auch zunächst nur mühselig. Hester ist oft durcheinander und bewirkt seit ihrer Ankunft ein leichtes Unbehagen bei den Gemeindemitgliedern. Mit ihrem selbstbewussten und freizügigen Wesen, ihrer Pflichtvergessenheit und Unzuverlässigkeit hat sie es schwer, vor allem bei den männlichen Geistlichen der Kolonie in Tritt zu kommen.

    Aber sie findet Verständnis: Pfarrer Arthur Dimmesdale (Gary Oldman) ist völlig eingenommen von ihrer Lebensweisheit und ihrem Interesse an der Literatur. Schnell jedoch wird aus dem eifrigen Austausch von Büchern und Nettigkeiten mehr: Dimmesdale kann seine Liebe zu Hester nicht mehr verbrämen. Hester ergeht es ebenso, doch der strenge puritanische Glaube der beiden hält sie davon ab, etwas Verbotenes zu tun – die Schuld vor Gott und die Läuterung vor der Gemeinde wären zu groß.

    Als eines Tages der Gemeindepfarrer von dem vermeintlichen Tod des Dr. Prynne in einem Massaker bei seiner Ankunft hört, ist es um ihn geschehen. Das Verlangen nach Hester und die tiefe Liebe lassen sich nicht mehr länger unterdrücken. In einer stürmischen Liebesnacht schwängert er Hester, die das gemeinsame Kind in Gefangenschaft zur Welt bringen muss, sofern sie sich weigert, den Namen des „Schändlichen“ preiszugeben. Zu allem Übel kehrt der tot geglaubte Dr. Prynne aus seiner Gefangenschaft zurück, um Hesters Leben zur wahrhaften „Hölle“ und den Ehebrecher ausfindig zu machen. Hester aber schweigt beharrlich: Folterungen, Läuterungen, Monate in Gefangenschaft und der psychische Terror ihres Mannes überzeugen sie nur noch mehr davon, wie verdorben und bestialisch diese Menschen sind, die in Gottes Namen reden und in Teufels Willen handeln. Ein scharlachroter Buchstabe auf ihrer Kleidung soll sie zu jeder Zeit für alle kenntlich machen: die Sünderin.

    Unzählige Filme und das gleiche Thema: Liebe, verbotene Liebe. Abgesehen davon, dass „Der scharlachrote Buchstabe“ auf einem prestigeträchtigen Meisterwerk basiert, erinnert die Geschichte in seiner Grundkonzeption an eine der etlichen gängigen Liebesdramen, die Filmemacher und Schriftsteller aus allen Jahrzehnten hervorgebracht haben. Gesellschaft und Sitte als ewige Wächter des menschlichen Triebes, zu den schlimmsten Zeiten sogar unter staatlich religiöser Aufsicht reglementiert, stehen für einen brisanten Stoff, aus dem die Tragödien und Dramen dieser Welt gemacht sind. Der bekannteste Vertreter dürfte wohl Dr. Faust und sein Gretchen sein. Was also macht gerade diesen Film so besonders?

    Es ist nicht schwer, die Stärken von Roland Joffés Neuverfilmung des Hawthorne-Stoffes auszumachen. Wunderschöne Landschaften und schillernde Bilder der „neuen Welt“ erwecken Sehnsüchte nach unberührter Natur, romantischer Schlichtheit und geborgenem Dorfleben. Die Dramaturgie des Films ist weitestgehend technisch ausgefeilt und überzeugt zumindest den unvoreingenommenen Zuschauer, der das Originalwerk von Hawthorne nicht gelesen hat. In seiner Erzählweise bietet der Film einen direkten, filmgerechten Spannungsanstieg, der vor allem von den persönlichen Schicksalen der Hauptdarsteller getragen wird. Die Brisanz des Stoffes wirkt sich dabei herausfordernd auf den Zuschauer aus. Sich einem Urteil über das Gesehene zu entziehen, ist nahezu unmöglich. Joffé spielt mit einer tragischen Thematik, die von einem modernen, liberalen Gesellschaftsstandpunkt betrachtet nur Kopfschütteln auslösen dürfte. Genau das ist es aber, was die Filmhandlung unterschwellig belebt, ein bebendes Gefühl hervorruft und einen tief begründeten Argwohn gegen eine Gesellschaft schürt, die Ideologien über den Menschen selbst stellt. Hawthorne und damit Joffé ist vor allem daran gelegen, dass der Zuschauer dieses Gefühl über die Distanz mitträgt.

    Entscheidend zu der Intensität des Konflikts und der Spannung tragen wie gesagt die exzellenten Schauspielkünste der Darsteller bei. Demi Moore spielt in „Der scharlachrote Buchstabe“ eine ihrer besten Rollen, in ihrer Dramatik wohl die intensivste und höchstens vergleichbar mit ihrer Rolle in Eine Frage der Ehre. Mit Gary Oldman als Pastor und Liebhaber wider Willen hätte man keine bessere Wahl treffen können. In tiefer Gespaltenheit trägt er einen ganz persönlichen Konflikt aus. Der Prozess seiner Persönlichkeit, ein glaubwürdiger und aufwühlender Kampf zwischen Anspruch und Wirklichkeit seines Willens und Handelns, ist beeindruckend. In einer explosiven Darstellung trägt Oldman die „dramaturgische Hauptlast“ des Films auf seinen Schultern. Der ausgebildete Theaterschauspieler hat bis heute leider noch nicht die Beachtung gefunden, die ihm eigentlich gebührt. Er dürfte den meisten wahrscheinlich nur als Sinius Black aus den Harry-Potter-Filmen bekannt sein.

    Die Filmlegende Robert Duvall (Der Pate-Trilogie; Apocalypse Now) spielt in souveräner Manier den fiesen Charakter Roger Chillingworth, der sich unentdeckt in das Gemeindeleben eingliedert, um die „Sünder“ gegen die Gemeinde auszuspielen. Chillingworth ist verachtenswert und anwidernd in jeder seiner Handlungen – ein Volltreffer, was die Besetzung angeht. Auch wenn „Der scharlachrote Buchstabe“ insgesamt spannend, dramatisch und schauspielerisch durchaus wertvoll ist, bietet er dennoch nicht die vollständigen Qualitäten einer gelungenen Literaturverfilmung. In dem direkten, zielstrebigen Spannungsanstieg schießt der Film etwas über sein Ziel hinaus. Fast bekommt man den Eindruck, dass Joffé ein wenig Herzblut und Engagement, vor allem aber Detailreichtum vermissen lässt zugunsten einer rasanten und abwechslungsreichen Erzählung mit kantigen Charakteren und solider Erzählstruktur. Die drei Hauptdarsteller sind für sich allein zwar absolut überzeugend, zugleich bleiben die anderen Darsteller und ihre Umwelten über die gesamte Länge des Films gänzlich unscharf konturiert. Diese „Blässe“ macht sich auch im Kulissenbau und in der generellen Optik des Films bemerkbar. Zuletzt bleibt die Frage nach der Lehre des Films beziehungsweise der Geschichte. Dass diese Geschichte „lehren“ will, ist unschwer erkennbar. Die tief greifende Gesellschaftskritik spannt einen weiten Bogen und steht im Mittelpunkt der Aussage. Das merkwürdige, etwas enttäuschende Ende des Films bleibt jedoch rätselhaft, auch im Hinblick auf eine etwaige Moral. Es kommt weder zur endgültigen Katastrophe, noch zur einheitlichen Lösung des Konflikts – ein dramentheoretischer Fauxpas.

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