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    Anora
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Anora

    Das "Pretty Woman"-Update, von dem wir nicht wussten, wie sehr wir es brauchen!

    Von Christoph Petersen

    Die Liste der Filme, in denen das Wort „fuck“ am häufigsten ausgesprochen wird, hat sogar einen eigenen Eintrag auf Wikipedia. An den ersten zwei Positionen finden sich Dokumentationen, die sich speziell ums Fluchen drehen, bevor dann auf dem Bronzeplatz der erste Spielfilm folgt: „The Wolf Of Wall Street“ mit 569 Verwendungen des Schimpfwortes, das sind 3,16 Mal „fuck“ pro Minute. Allerdings könnten wir uns gut vorstellen, dass Martin Scorseses Broker-Biografie bald von „Anora“ vom Treppchen gestoßen werden könnte, sobald sich nur jemand die nicht unwesentliche Mühe macht, die „fucks“ im neuen Film von „The Florida Project“-Regisseur Sean Baker zu zählen.

    Dabei erinnert der Titelschriftzug zu Beginn noch an einen kitschigen Fernsehfilm der Woche, bevor die Kamera nach links schwenkt und wir uns unvermittelt in einem Stripclub wiederfinden. Hier geht auch die 23-jährige Ani (Mikey Madison) mit großer Empathie und Abgeklärtheit auf Kundenfang für die in den VIP-Logen angebotenen Lapdance. Einer ihrer Kunden ist der zwei Jahre jüngere Russe Vanya (Mark Eydelshteyn), der Ani anschließend auch noch für einen Privattermin bei sich zu Hause buchen will. Und dort erlebt Ani eine handfeste Überraschung: Dass der Junge Geld hat, war ja klar, aber diese Luxusvilla ist wirklich wie von einem anderen Stern!

    Cinderella in Stöckelstiefeln

    Vanya bestellt Ani immer wieder für Sex zu sich – und schließlich will er, dass sie sich eine ganze Woche lang als seine Freundin ausgibt: Sie handelt ihn von 10.000 auf 15.000 Dollar hoch, aber wahrscheinlich hätte er auch 30.000 gezahlt. Bei einem letzten gemeinsamen Trip nach Las Vegas, bevor Vanya zu seinen Oligarchen-Eltern nach Russland zurückmuss, heiraten die beiden spontan – und setzen damit die halbe russische Gemeinde New Yorks in helle Aufregung. Denn als Vanyas Eltern davon Wind bekommen, machen sie sich sofort auf den Weg in die Staaten – und schicken auch schon mal ihre örtlichen Handlanger vor, um alles für die schnellstmögliche Annullierung der Ehe vorzubereiten…

    Wer erinnert sich nicht an die legendäre Montage in „Pretty Woman“, in der Julia Roberts als frisch in einen reichen Geschäftsmann verliebte Sexarbeiterin alle möglichen Outfits anprobiert? „Anora“ hat nicht nur eine ähnliche Thematik, sondern auch jede Menge vergleichbare Sequenzen – nur werden Klamotten hier seltener angezogen, sondern vor allem abgestreift. Sean Baker hat bereits wiederholt mit realen Sexarbeiter*innen an seinen Indie-Projekten wie „Tangerine L.A.“ gearbeitet – und so wirkt das alles erstaunlich authentisch, selbst wenn „Anora“ auf der Plot-Ebene eher wie eine Disney-Sage mit einem Traumprinzen und seinem Märchenschloss beginnt.

    FilmNation Entertainment
    Es würde uns ganz und gar nicht wundern, wenn Mikey Madison durch „Anora“ endgültig zum Star wird!

    Die Cinderella-Story in der ersten Dreiviertelstunde ist der pure (cineastische) Exzess – gefilmt in gleichermaßen epischen wie stylischen Cinemascope-Bildern. Vanya ist dabei schwer zu greifen. Als Sohn von Superreichen ist er zwar nicht das verwöhnte Arschloch, wie man es sonst oft in Filmen sieht. Aber er ist es trotzdem gewohnt, alles zu bekommen, was er will – und das ist vor allem Spaß, beim Partyfeiern, Sex und PlayStation-Zocken. Ani ist hingegen absolut offen und ehrlich – und wohl auch ein wenig naiv, wenn sie glaubt, dass der Vier-Karat-Ring an ihrem Finger bedeutet, dass Vanya sie wirklich liebt. Zugleich ist sie aber auch mit allen Wassern gewaschen und hat gelernt, sich unliebsame Typen vom Hals zu halten, sich niemals unterkriegen zu lassen.

    Shootingstar Mikey Madison („Scream 6“) legt in der Rolle eine unglaubliche Energie an den Tag – ihre Auftritte sind absolut mitreißend, und das liegt längst nicht nur an ihrem ständigen Fluchen. Sobald die drei Oligarchen-Schergen vor der Tür stehen, langt sie auch physisch ordentlich zu – selbst wenn ihr das am Ende wenig hilft: Vanya ist weg und Ani muss dem mit der Situation völlig überforderten Handlanger-Trio dabei helfen, ihren verschwundenen Vermählten wiederzufinden. Ein Adrenalin-getränkter Trip durch das nächtliche New York, oft unfassbar komisch, aber mit einem untrüglichen Gespür für die besuchten Orte sowie einer ähnlichen fiebrigen Elektrizität, mit der zuletzt Adam Sandler im Safdie-Brüder-Meisterwerk „Der schwarze Diamant“ durch den Diamond District hastete.

    Pretty "fucking" Woman

    Man kommt kaum zum Durchatmen, so viel Tempo hat der Film, so viel Spaß macht das alles beim Zuschauen. Wenn sich Ani ganz allein mit dem Milliardärs-Milchbubi und seinen Oligarchen-Erzeuger*innen anlegt, dann drückt man ihr natürlich alle Daumen – und sie schlägt sich ja mit ihrer Nichts-von-niemandem-gefallen-lassen-Art auch fantastisch gut. Aber über all die gute Laune, die der Film macht, vergisst man schnell, dass sie in diesen hochtourigen 24 Stunden auch eine Menge Mist einstecken muss. Nur Sean Baker vergisst das nicht – und schließt seinen Film mit einer ganz kleinen, zurückgenommenen, wohl gerade deshalb so kraftvollen Szene, die zeigt, dass die Zeit von „Pretty Woman“ vielleicht endgültig vorüber ist.

    Fazit: „Pretty Woman“ trifft „Der schwarze Diamant“! „Anora“ ist ein unglaublich energiegeladenes und gnadenlos unterhaltsames Cinderella-Update für Erwachsene, bei dem die ganze Tragik des Geschehens erst nach atemlosen 130 Minuten in der allerletzten, plötzlich ganz ruhigen Szene des Films einschlägt wie ein Baseballschläger.

    Wir haben „Anora“ auf dem Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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