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    Wo die wilden Kerle wohnen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Wo die wilden Kerle wohnen
    Von Sascha Westphal

    Bei Kinder- und Familienfilmen sind Hollywoods Produzenten in der Regel noch sehr viel vorsichtiger und konservativer als sonst schon. Schließlich lässt sich ihr Zielpublikum, zu dem neben Kindern immer auch Jugendliche und Erwachsene gehören, längst nicht so einfach eingrenzen wie das von Action- oder Horrorfilmen, romantischen Komödien oder Comic-Verfilmungen. Das Familien-Kino muss stets bemüht sein, Grenzen einzureißen und die Menschen aus ihren sonstigen Nischen herauszulocken. Dieser Anspruch auf Universalität führt allerdings meist nur zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Aus dem Bestreben, es möglichst vielen Recht zu machen, erwachsen dann oft extrem kontur- und profillose Werke, die zwar niemandem weh tun, aber auch keinen wirklich begeistern können. Doch nun kommt allem Anschein nach etwas Bewegung in dieses Genre. Die Devise „Keine Experimente“, die sich Produzenten und Studiobosse so lange auf ihre Fahnen geschrieben hatten, gilt mit einmal nicht mehr, zumindest nicht mehr ausschließlich. Filme wie Wes Andersons Der fantastische Mr. Fox und Spike Jonzes Fantasy-Familienabenteuer „Wo die wilden Kerle wohnen“ verkehren sie sogar in ihr Gegenteil. Denn größere und auch mutigere Experimente sind kaum vorstellbar. Andersons Stop-Motion-Adaption von Roald Dahls Kinderbuch und Jonzes so phantasievolle wie bildgewaltige Interpretation von Maurice Sendaks gleichnamigen Bilderbuch-Klassiker eröffnen dem Familienfilm ganz neue Perspektiven.

    Der kleine Max (Max Records, Brothers Bloom) fühlt sich von allen verlassen. Sein Vater hat sich vor einiger Zeit abgesetzt, seine ältere Schwester Claire (Pepita Emmerichs) ist ständig nur mit ihrer Clique unterwegs, und seine Mutter (Catherine Keener, Being John Malkovich, Jungfrau (40), männlich, sucht..., Capote) ist einfach nur überfordert. Sie liebt Max über alles, aber ihr Job lässt ihr kaum Zeit für ihre Kinder. Als sie dann auch noch einen neuen Freund (Mark Ruffalo, Collateral, Zodiac) mit nach Hause bringt, brennen bei Max alle Sicherungen durch. Er schlüpft in sein Wolfskostüm und tobt wie wild durchs Haus. In seiner Wut beißt er seine Mutter, die ihn beruhigen will, und läuft dann voller Schuldgefühle ins kalte Dunkel des Winterabends hinaus. Bei der Flucht vor seiner verzweifelten Mutter entdeckt er schließlich ein kleines Segelboot, das ihn in einer mehrtägigen Fahrt über das Meer zu einer geheimnisvollen Insel bringt. Kaum ist er angekommen, begegnet Max den „wilden Kerlen“. Die riesigen, zotteligen Kreaturen wirken zwar auf den ersten Blick ziemlich furchteinflößend, aber so wie sich der Junge in seinem Wolfsanzug aufführt, passt er perfekt zu ihnen. Er kann sie sogar überreden, ihn zu ihrem König zu machen…

    Alleine schon die Entscheidung einiger Hollywood-Verantwortlicher, Maurice Sendaks 1963 erstmals veröffentlichtes Bilderbuch fürs Kino zu adaptieren, zeugt zumindest von einer gewissen Risikobereitschaft. Natürlich hat die ungeheure und bis heute ungebrochene Popularität dieses Klassikers dabei eine Rolle gespielt. Aber trotz allem muss den betreffenden Executives und Produzenten bewusst gewesen sein, dass sich eine Geschichte, die gerade einmal aus neunzehn Illustrationen besteht, nicht ohne einschneidende Veränderungen auf die Leinwand bringen lässt. Da es mit dem Mut der Entscheidungsträger in der Traumfabrik dann letztlich doch nicht sehr weit her ist, hat es schon weit mehr als zehn Jahre gedauert, bis das Projekt auf Betreiben von Maurice Sendak schließlich bei Spike Jonze gelandet ist. Doch damit fingen die Schwierigkeiten erst so richtig an. Es folgten ein Wechsel des Studios, von Universal zu Warner, eine etwa drei Jahre währende Produktionsphase und erhebliche Differenzen um die Endfassung zwischen Jonze und dem Studio, die zu weiteren Arbeiten an dem Film führten. Es grenzt fast schon an ein Wunder, dass „Wo die wilden Kerle wohnen“ all diese Querelen nicht nur unbeschadet überstanden hat, sondern im Endeffekt erst durch sie zu dem grandiosen Familienfilm geworden ist, der nun in die Kinos kommt. Ab einem gewissen Punkt war der Mut zum Risiko wahrscheinlich nichts anderes mehr als Resignation. Die Verantwortlichen haben kapituliert, und Spike Jonze konnte seine zusammen mit dem Drehbuchautoren Dave Eggers (Away We Go) entwickelte Vision realisieren.

    Traum und Wirklichkeit gehen in Spike Jonzes kindlich magischer und zugleich ungeheuer erwachsener Annäherung an Maurice Sendaks Geschichte Hand in Hand. Wie das kleine Segelboot, mit dem der verzweifelte Max in See sticht, gleitet der Film, der weniger eine Adaption als eine konsequente Weiterentwicklung seiner Vorlage ist, ganz selbstverständlich von einer Welt in die andere. Schon vor dem großen Zwischenfall, bei dem seine kleine Vorstadtwelt so gänzlich aus den Fugen geraten ist, hat sich Max immer wieder in seine geradezu überbordende Phantasie geflüchtet. Nun da er glaubt, alles verloren zu haben, erwächst aus seinen Sehnsüchten und seinen Ängsten, aus seinem Freiheitsdrang und seinen Schuldgefühlen ein eigenes Reich, das von den Monstern seines Unterbewusstseins bevölkert wird. Das wilde Meer und die von der Zivilisation unberührte Insel sind die Landschaften seiner Seele und als solche genauso real wie die Häuser und Straßen der amerikanischen Vorstadt, die sein Zuhause ist. Es ist also nur konsequent, dass die Insel mit ihren Wäldern und Stränden, ihren Bergen und Wüsten bei Jonze fast schon etwas Naturalistisches hat.

    Das einzig Fantastische in dieser fremden und dabei doch so vertrauten Welt sind die „Wild Things“, die entgegen dem deutschen Titel längst nicht alle männlich sind. Diese hybriden Fabelwesen, unter deren Fell Schauspieler und Stuntmen stecken, offenbaren sich dann auch recht schnell als Spiegelbilder und Widergänger der Menschen in Max’ Leben. Der jähzornige Carol, mit dem Max sich auf Anhieb anfreundet und der ihn umgehend zum König ausruft, ist das monströse Alter Ego des Jungen. Beide sind sie maßlos, in ihrem Zorn genauso wie in ihrem Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung. Wie Max wurde auch er verlassen: KW, das Monster seines Lebens, hat es einfach nicht mehr ausgehalten und ist ihrer eigenen Wege gegangen. Max gelingt es zwar, sie zurück zu Carol und den anderen zu holen, aber das Idyll, das einen Moment lang in greifbare Nähe rückt, erweist sich als eine Art Fata Morgana. Familien sind überall, in der amerikanischen Vorstadt genauso wie in der Wildnis einer abgeschiedenen Insel, überaus fragile Konstrukte. Und Menschen wie Monster tendieren dazu, gerade das, was ihnen am meisten bedeutet, mal aus Übermut, dann wieder aus Angst zu zerstören.

    Bisher waren Spike Jonzes Filme zumindest zu einem Teil immer auch Kopfgeburten. In „Being John Malkovich“ und Adaption haben er und sein damaliger Drehbuchautor Charlie Kaufman ihre Innenwelten auf Zelluloid zum Leben erweckt. Die Verbindungen zwischen Kunstwerken und der Wirklichkeit, die sie hervorgebracht hat, sind dabei durchaus vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Max’ Leben und dem Treiben auf der Insel. So erweist sich diese innovative, die engen Grenzen des amerikanischen Familienfilms konsequent ignorierende Kinderbuch-Adaption als die bisher persönlichste Arbeit des Kino-Exzentrikers Jonze. Jedes seiner verblüffend realistischen Bilder kommt einem Bekenntnis gleich: Seht her, das bin ich, und das ist unsere Welt! Nichts ist befreiender, als einmal den Wolf, das „Wild Thing“, in einem herauszulassen. Das wilde Treiben, mit dem Max’ Herrschaft auf der Insel beginnt, gehört somit auch zu den magischsten Kinomomenten dieses Jahrzehnts. Aber kein Zauber, nicht einmal der schönste, kann ewig anhalten. Selbst in den fröhlichsten Momenten, den Augenblicken beglückender Ausgelassenheit, weht noch eine Ahnung von schmerzlicher Melancholie durch den Film. In ihr manifestieren sich neben allen Kinder- auch alle Erwachsenenängste vor Einsamkeit und Leere. Die Furcht vor dem Verlassenwerden und die vor der Zügellosigkeit der eigenen Gefühle ist in jedem Alter überwältigend.

    Diese Ängste sind allgegenwärtig und zeitlos. Aber in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts, einer Welt zerbrochener Familien, alleinerziehender Mütter, verschwundener Väter und überaus prekärer Arbeitsverhältnisse, scheinen sie fast ins Unendliche verstärkt. Spike Jonze bleibt von Anfang an ganz nah an Max und seinen Empfindungen und Wahrnehmungen dran. Die Vorstadt, in der dieser kreative und phantasievolle Junge, der sich voller Begeisterung aus dem Schnee im Vorgarten ein Iglu - eine kalte, aber eben doch anheimelnde Höhle - baut, seine Kindheit verbringt, galt einmal als Ideal. Doch mittlerweile hat sie sich in eine ewige, nasskalte Winterwelt der Seele verwandelt. Spike Jonze fängt sie mit den Augen von Max ein und nimmt den Mythos wie den Schrecken Suburbia so noch einmal ganz neu wahr: Alle Träume sind vergessen, der einstige Glanz ist verschwunden, nun lauern überall Enttäuschung und Verfall. Näher kann ein Filmemacher dem kindlichen Empfinden und seinen elementaren Wahrheiten nicht kommen.

    Eigentlich dürfte der Familienfilm, nachdem sich nun so eigenwillige und radikale Künstler wie Wes Anderson und Spike Jonze seiner angenommen haben, nie mehr der gleiche sein. Doch es steht zu befürchten, dass dieser Aufbruch in neue, aufregende (Kinder-)Welten von den Verantwortlichen in Hollywood schon bald wieder erstickt wird, lange bevor er das Kino dauerhaft verändern kann. Aber selbst wenn es so kommen sollte, diese beiden Filme, „Der fantastische Mr. Fox“ und „Wo die wilden Kerle wohnen“, werden alle konservativen Restaurationsbestrebungen überdauern. Momente und Szenen wie die, in der Max seiner Mutter eine Geschichte von einem Vampir erzählt, der in die gläserne Fassade eines Hochhauses beißt, dabei seine Zähne verliert und daraufhin von den anderen Vampiren verstoßen wird, bleiben auf immer unvergessen. In dieser simplen, nur aus „Und dann...“-Reihungen bestehenden Erzählung spiegelt sich nicht nur Max’ überlebensgroße Furcht davor, einmal alle Menschen zu verlieren, die ihm etwas bedeuten. Sie bringt zugleich das Wesen der postindustriellen Welt und ihrer Arbeits- und Kapitalverhältnisse auf den Punkt.

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