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    Carlito's Way
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Carlito's Way
    Von Ulrich Behrens

    Brian de Palma, der u.a. mit „Scarface“ (1983), „The Untouchables“ (1987) und „Mission: Impossible“ (1996) große Erfolge erzielte, drehte 1993 den beim hiesigen Kinopublikum nicht sonderlich beachteten Gangsterfilm „Carlito’s Way“. Al Pacino, Sean Penn und Penelope Ann Miller glänzten in diesem fast episch anmutenden Drama.

    Ursprünglich hätte der aus Puerto Rico stammende Drogendealer Carlito Brigante (Al Pacino) 30 Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Doch sein Anwalt David Kleinfeld (Sean Penn) konnte aufgrund von Verfahrensfehlern die Strafe auf fünf Jahre herunterdrücken. Carlito wird entlassen und verkündet allen, die es unbedingt wissen wollen – weil sie befürchten, er könne wieder zum Konkurrenten werden oder Geld von ihnen verlangen, weil er sie nicht verpfiffen hat– , er wolle aus dem Geschäft aussteigen, sich zur Ruhe setzen. Niemand glaubt ihm das so recht, doch Carlito meint es anscheinend ernst. Er kauft sich in den Club des hoch verschuldeten Saso (Jorge Porcel) ein und versucht, ein ziviles Leben zu führen. Er ist noch immer in Gail (Penelope Ann Miller) verliebt, die inzwischen ihre Träume von einer großen Karriere aufgegeben zu haben scheint: Sie tanzt in einem anderen der vielen Clubs als Nackttänzerin. Auch Gail glaubt nicht, dass Carlito wirklich ein straffreies Leben führen will. Aber sie liebt ihn.

    Die Polizei denkt ebenfalls, dass Brigante wieder ins Geschäft einsteigen will, und schickt ihm den inzwischen an einen Rollstuhl gefesselten Verbrecher Lalin (Viggo Mortenson), ausgestattet mit einem Mikrofon, um Carlito reinzulegen. Doch der merkt, was läuft lässt Lalin durch seinen „Wachhund“ Pachanga (Luis Guzmán) rauswerfen. Im Club treibt sich zudem der junge Ganove Benny Blanco (John Leguizamo) herum, den Carlito für einen arroganten, dummen Gangster hält, der ihn bzw. die Legende, die sich um Carlitos Verbrechervergangenheit aufgebaut hat, kopieren will. Auch ihn schmeißt Carlito aus dem Club, als Blanco versucht, Ansprüche auf Carlitos Angestellte Steffie (Ingrid Rogers) zu stellen, die sich auf eine Affäre mit Kleinfeld eingelassen hat. Früher hätte er Blanco einfach getötet und seine Leiche irgendwo verscharrt. Heute lässt Carlito ihn laufen.

    Eines Tages bittet Kleinfeld Carlito um Hilfe. Der im Gefängnis einsitzende Mafia-Gangster Tony Taglialucci (Frank Minucci) erpresst Kleinfeld, der Tony angeblich eine Million Dollar entwendet haben soll. David soll mit seiner Yacht am Ausbruch Taglialuccis mitwirken, ansonsten würde er von der italienischen Mafia beseitigt. David will, dass Carlito mit ihm hinaus fährt. Da Carlito Kleinfeld noch etwas schuldet, weil er ihm die relativ geringe Haftstrafe verdankt, willigt er ein. Kleinfeld allerdings hat nichts anderes vor, als Taglialucci und den ebenfalls auf der Yacht mitfahrenden Sohn Frankie (Adrian Pasdar) zu ermorden. Nachdem Kleinfeld ohne Wissen Carlitos diese Dummheit begangen hat, hat Carlito nicht nur die Mafia, sondern auch das FBI im Kreuz. Die mit Gail geplante Flucht aus dem Milieu droht zu scheitern ...

    Ein bisschen im Stil der alten Gangsterfilme erzählt de Palma die Geschichte eines Gangsters, der dem Milieu nicht entfliehen kann, so sehr er dies auch wünscht. Carlito hat nichts anderes gelernt, als Verbrecher zu sein, als Verbrecher zu leben, als Verbrecher zu denken, sich als Verbrecher zu verhalten. Die Entscheidung, aus dem Milieu auszusteigen, ist ernst gemeint; doch anstatt von Anfang an weit weg von New York eine neue Existenz aufzubauen, kauft er sich in den gleichen Strukturen in einen Club ein, die einen beträchtlichen Teil seiner Gangster-Karriere ausgemacht haben, und versucht im Milieu aus dem Milieu zu entfliehen. Carlito weiß, dass es im Milieu keine wirkliche Freundschaft gibt; er traut deshalb niemandem. Aber er schätzt seinen Anwalt, Kleinfeld, völlig falsch ein. Denn in ihm sieht er keine Gefahr, obwohl Lalin ihm plastisch gezeigt hat, wie „alte Freunde“ bereit sind, für sich selbst jedes Mittel, auch das des Verrats, einzusetzen. Carlito will keinen Ärger in seinem Club, keine Waffen, keine Auseinandersetzungen. Er lässt Blanco laufen, statt ihn zu erschießen. Genau das wird ihm zum Verhängnis. Er vertraut seinem verschuldeten Partner Saso sein Geld an; Saso versucht, Carlito zu hintergehen und ihm das Geld zu entwenden. Carlito denkt weiterhin in den Strukturen des Milieus, glaubt aber, nicht akzeptieren zu müssen, dass prinzipielles Misstrauen, eiskalter Verstand, Skrupellosigkeit und die Waffe dieses Milieu prägen.

    Die Strukturen zwingen ihn schließlich, sich wieder milieugerecht zu verhalten. Der Traum von einer anderen Existenz mit Gail zerplatzt wie eine bunte Seifenblase. Zu den schönsten Szenen des Films gehört die, in der Carlito vor Gails Tür steht, getrennt nur durch die Kette an der Tür. Durch den Spalt schaut Carlito in Gails Wohnung. Gail entkleidet sich langsam, Carlito beobachtet sie, sehnsüchtig, begierig, dürstend, hoffend. Dann tritt er die Tür ein, schläft mit Gail, die später feststellt, dass Carlito sie geschwängert hat. Eine Schlüsselszene. Hier ist alles versammelt: der Wille, aus den alten Strukturen herauszukommen, die Hoffnung auf ein neues Leben (das Kind), die Verzweiflung und das Denken in den alten Strukturen (er tritt die Tür ein). Nach dieser Nacht steht Carlito am Scheideweg. Gail will sofort mit ihm weg, er schulde Kleinfeld überhaupt nichts. Carlito denkt anders. Der berechnende Verstand opfert das Emotionale, das „Andere“. „You are so beautiful to me“, aber kann Gail dies jetzt auch noch ihm gegenüber empfinden? Kann Carlito überzeugend noch sagen: „I am so beautiful to you, too“?

    De Palma erzählt nicht vom unabwendbaren Schicksal. Es sind im Film immer wieder kleine Schlitze offen, Ritzen, durch die Licht hineinfällt, Chancen, nicht einfach des Entkommens, sondern des anderen Lebens. Carlito verschließt sich ihnen. Erst dadurch ist sein Schicksal besiegelt. Es sind diese Millimeter im Leben, diese winzig erscheinenden Unterschiede, hierhin oder dorthin zu gehen, Differenzen, weniger vom freien Willen abhängig sind, eher von einem nicht kalkulierbaren Gefühl, eine innere Entscheidung zu treffen, ohne lange und intensiv nachzudenken, aus dem Bauch heraus zu handeln, schnell, im wahrsten Sinn des Wortes: unüberlegt, gegen die erlernten Muster, nicht dem kalten, berechnenden Verstand folgend, sondern dem Instinkt. Wer anderes als Al Pacino kann das Milieu derart personifizieren und gleichzeitig das Pathetische, das Leiden mit einer solchen Kraft zum Ausdruck bringen? Die Rolle ist ihm mithin auf den Leib geschnitten. Wenn er durch den Schlitz in der Tür schaut, dann öffnet sich dem Betrachter das ganze Leiden dieser Existenz. Penelope Ann Miller ist wunderbar, spielt Gail als eine Frau zwischen ihrer tiefen Liebe zu Carlito und der Wut, Verzweiflung und Enttäuschung über ihre Machtlosigkeit gegenüber den Verhaltensmustern, denen sie sich ausgesetzt sieht, auch in ihren eigenen Träumen, die sie nicht realisieren konnte. Und Sean Penn mimt den Anwalt David Kleinfeld als einen Mann, der sich in die Strukturen begeben hat, inzwischen das Spiel mitspielt, davon profitiert, gleichzeitig Carlito gegenüber aber vorgibt, noch der alte zu sein, der Freund, obwohl er nun der Ruchlose ist, der seinen Freund verrät, hintergeht.

    Ein intensiver, entsetzlich beeindruckender Film, in dem de Palma die Kamera durch die kalte Künstlichkeit der Szene streifen lässt, deren Gesetze niemand hintergehen kann. Die einzige Freundschaft im Milieu ist die zwischen dem völlig auf sich gestellten Individuum und dem Regelwerk: Akzeptierst Du mich, akzeptiere ich Dich, und Du hast alle Chancen, länger zu überleben als die anderen. Verletzt Du meine Regeln, bist Du früher im Leichenschauhaus. Die Lichtblicke sind nur die kleinen Öffnungen, die sich hier und da auftun, aber nicht als Hoffnung oder als Fluchtwege, sondern als ein anderes Leben.

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