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    Sexuelle Übergriffe in Hollywood: Warum es okay ist, dass man Roman Polanski und Casey Affleck die kalte Schulter zeigt (oder auch nicht)

    Darf man die Zusammenarbeit mit oder den Applaus für Kollegen verweigern, weil diese sexueller Übergriffe beschuldigt, vielleicht sogar angeklagt und verurteilt wurden? Ich sage: Ja, man darf! Denn es ist die Entscheidung eines Einzelnen!

    Universal Pictures Germany

    Immer wieder wird darüber diskutiert, wie man mit Filmschaffenden umgeht, die sich eines sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben oder gegen die zumindest entsprechende Vorwürfe erhoben werden. Darf man sich ihre Filme anschauen, ist die Frage, die sich mancher Zuschauer stellt. Darf man mit ihnen zusammenarbeiten, die Frage, die vielleicht manchen Kollegen umtreibt. Außerhalb unserer üblichen Nachrichten beschreibt FILMSTARTS-Redakteur und Jurist Björn Becher im nachfolgenden Artikel vier in Hollywood und den Medien oft diskutierte Beispiele und erklärt, warum man bei diesem Thema unterschiedliche Meinungen akzeptieren muss und endlich aufhören sollte, die Leute zu missionieren.

    Der Regisseur Victor Salva dreht gerade nach „Jeepers Creepers“ und der direkten Fortsetzung den dritten Teil seiner Horror-Reihe. Die aus Horrorfilmen wie „Das Ding aus dem Sumpf“ oder „The Fog – Nebel des Grauens“ bekannte Genre-Ikone Adrienne Barbeau wurde dabei als Darstellerin für „Jeepers Creepers 3“ offiziell angekündigt, doch dementierte ihre Beteiligung kürzlich auf Facebook. Zu den Gründen verlor sie kein Wort. Die Webseite bloody-disgusting.com vermeldet unter Bezugnahme auf Quellen aus dem Umfeld, dass die Schauspielerin wegen der Vergangenheit von Regisseur Salva absprang. Der missbrauchte 1989 bei der Produktion seines Debüts „Clownhouse“ seinen zwölfjährigen Hauptdarsteller sexuell und wurde deswegen zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, nach 15 Monaten wegen guter Führung entlassen. Salva ist ein verurteilter Sexualstraftäter, doch er hat seine Strafe abgesessen.

    Als bei der Oscarverleihung 2017 Casey Affleck die Statue für den Besten Hauptdarsteller erhielt, überreichte ihm Brie Larson den Goldjungen. Es ist Usus, dass der Vorjahresgewinner des anderen Geschlechtes in der entsprechenden Kategorie den Preis übergibt. Nach der Verkündung des Namens setzte Larson einen ernsten Gesichtsausdruck auf; sie überreichte ihm noch professionell den Preis, während das Publikum dem Schauspieler applaudierte, stimmte sie aber nicht ein. Als sie anschließend von Vanity Fair zu diesem Verhalten gegenüber Affleck bei Preisverleihungen befragt wurde (schon bei den Golden Globes gab sie sich distanziert), führte sie vielsagend aus: „Ich glaube, was ich getan habe, spricht für sich selbst.“ Brie Larson engagiert sich seit ihren intensiven Vorbereitungen für ihre Rolle in „Raum“ stark gegen den sexuellen Missbrauch von Frauen. Casey Affleck wurde 2010 von einer Produzentin und einer Kamerafrau nach den Arbeiten an der Doku „I’m Still Here“ verklagt. Beide warfen ihm sexuelle Belästigung vor allem durch Worte, aber auch durch einige Taten vor. So behauptete eine der Klägerinnen, er habe sich alkoholisiert und leichtbekleidet zu ihr ins Bett gelegt, als sie geschlafen habe und ihr dabei über den Rücken gestreichelt. Beide Verfahren wurden außergerichtlich beigelegt, die Details sind unter Verschluss. Die Beteiligten äußern sich öffentlich nicht bzw. nur ausweichend. Affleck wurde nie wegen eines Vergehens verurteilt, es ist unklar, ob er überhaupt etwas getan hat.

    Woody Allens Privatleben sorgte immer wieder für Diskussionen. Seine Ehe mit Mia Farrow ging in die Brüche, weil sie bei Allen Nacktfotos ihrer (volljährigen) Adoptivtochter fand. Allen gestand eine Beziehung ein und heiratete später die Adoptivtochter seiner Ex. Im Rahmen des Streits zwischen Allen und Farrow gab es aber immer wieder Vorwürfe, dass der Regisseur die sieben Jahre alte gemeinsame Adoptivtochter missbraucht habe. Ermittlungen wurden aufgenommen und ein Staatsanwalt begründete den Verzicht auf eine Anklage schließlich nur damit, dass man aus Sorge um das Kindeswohl die Sache nicht weiter austragen wolle. Doch 2013 und 2014 erhob die mittlerweile erwachsene Frau die Vorwürfe öffentlich erneut. Seitdem lodert die Kontroverse um Woody Allen wieder. Susan Sarandon sorgte 2016 beim Filmfestival in Cannes für Aufsehen, als sie klarstellte, wie wenig sie von Woody Allen hält. Comedian Sarah Silverman äußerte sich 2016 ebenfalls kritisch. Beide würden wohl kaum mit dem Filmemacher zusammen arbeiten. Woody Allen ist nie angeklagt oder verurteilt worden, es ist nicht bekannt, was damals genau passiert ist.

    Am bekanntesten ist sicher die seit Jahrzehnten laufende Diskussion um Roman Polanski. Er soll 1977 ein 13 Jahre altes Mädchen unter Drogen gesetzt und vergewaltigt haben. Polanski bekannte sich schuldig unter der Bedingung, dass die Anklage auf „außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen“ reduziert wurde und saß dafür 42 Tage im Gefängnis. Nach seiner Entlassung sollte, so die Übereinkunft, noch eine Bewährungsstrafe verhängt werden. Doch der Richter wollte bei diesem Deal nicht mitspielen. Als Polanski daher eine hohe Strafe befürchten musste, setzte er sich nach London ab und zog von dort anschließend nach Frankreich weiter. Seitdem reist der Filmemacher nicht mehr in die USA oder Länder, die ihn in die USA ausliefern könnten. 2009 wurde er in der Schweiz verhaftet, stand dann noch für mehrere Monate unter Hausarrest, wurde schlussendlich aber nicht in die USA ausgeliefert. Anfang 2017 erklärte Polanski, dass er nicht die Verleihung der César-Awards, des französischen Gegenstücks zu den Oscars, anführe und auch der Veranstaltung fernbleibe. Zuvor gab es massive Proteste, dass ausgerechnet Polanski zum Zeremonienmeister der Veranstaltung gemacht wurde. Polanski hat Sex mit einer Minderjährigen eingeräumt, andere Teile der Vorwürfe bestritten. Sein Verfahren ist noch in der Schwebe, ein US-Gericht will ihn weiterhin anklagen, zuletzt beschied im Dezember 2016 ein polnisches Gericht, dass ein solcher Auslieferungsantrag aus dem Jahr 2015 zurecht abgelehnt wurde.

    Die erwähnten Fälle sind sehr unterschiedlich, doch alle vier haben etwas gemeinsam. Wo es auf der einen Seite die genannten Proteste gibt, gibt es natürlich auch welche, die es anders sehen. Kaum stieg Barbeau bei „Jeepers Creepers 3“ aus, wurde die ebenfalls aus vielen Genrefilmen bekannte Schauspielerin Meg Foster („Leviathan“, „The Lords Of Salem“) als Ersatz angekündigt. Sie hat scheinbar kein Problem mit Salvas Vergangenheit. Die Standing Ovations bei der Vergabe von Golden Globe und Oscar an Casey Affleck sind uns noch in guter Erinnerung und Woody Allen sowie Roman Polanski können für jeden ihrer Filme unter den renommiertesten Darstellern Hollywoods auswählen.

    Aus juristischer Sicht ist die Lage klar. Salva hat seine Strafe abgesessen, die anderen wurden nicht verurteilt, das Verfahren gegen Polanski ist dabei zumindest in den USA noch schwebend. Die Prinzipien der Unschuldsvermutung und des Resozialisierungsgedankens sind nicht nur in unserem Strafrecht verankert. Daher denke ich: Wenn jemand für sich entscheidet, er hat kein Problem, mit einem der oben genannten Männer zu arbeiten, ihm zu applaudieren oder seine Filme zu schauen, dann sollte auch niemand anderes mit der Entscheidung dieser Person ein Problem haben. Kate Winslet sagte einmal: „Wenn Roman Polanski dich einlädt, bei einem Projekt mitzumachen, dann sagst du nicht Nein.“ Es ist ihre Ansicht und ich verstehe nicht, warum sie dafür kritisiert wurde, mit dem polnischen Regisseur zu arbeiten.

    Aber genauso soll jeder selbst entscheiden dürfen, wo aus moralischer Sicht für ihn die Grenze liegt und wie er daher jeden Einzelfall für sich bewertet. Wer nicht mit einem Filmemacher wegen dessen Vergangenheit arbeiten will, hat dieses Recht genauso wie der Kollege, der trotzdem mit ihm arbeiten will. Wenn man auf einer Preisverleihung dem Kollegen die kalte Schulter zeigt, weil man glaubt, dass dieser moralisch verwerfliche Dinge getan hat, muss dies erlaubt sein. Und wer für sich beschließt, er schaut deswegen keine Filme mehr von Regisseur X oder mit Darsteller Y, der sollte diese Entscheidung auch nicht verteidigen und rechtfertigen müssen.

    Ob man eine der extremen Positionen bekleidet oder wie Lena Dunham der Meinung ist, dass man Woody Allens Verhalten „verabscheut“, aber seine Filme trotzdem aus „künstlerischer Sicht schätzt“, dies sollte JEDEM EINZELNEN SELBST überlassen sein! Davon unabhängig ist es natürlich klar – und da gibt es auch keine zwei Ansichten: Wer auf irgendeine Weise sexuell übergriffig wird, sollte unbedingt und ohne jede Rücksicht auf seinen Prominentenstatus strafrechtlich verfolgt werden.

    Aber zurück zum Umgang: Mir persönlich geht es genauso gewaltig auf den Zeiger, wenn Brie Larson sich für ihr Verhalten rechtfertigen muss und in Sozialen Medien ihr vielleicht sogar Neid und Missgunst unterstellt werden, wie wenn sich Cate Blanchett (wie Anfang 2014 geschehen) ausdauernd dafür rechtfertigen muss, dass sie mit Woody Allen gearbeitet hat. Da beleidigt die eine Seite Adrienne Barbeau, weil sie nicht in „Jeepers Creepers 3“ mitspielt, und die andere Seite Meg Foster, weil sie es tut. Beides ist völlig unangebracht! Es ist meiner Ansicht nach auch falsch, wenn wie im Fall von Woody Allen die die Vorwürfe erhebende Adoptivtochter auch noch einzelne Schauspieler namentlich anklagt, die mit dem Filmemacher arbeiten. Diese sind die falschen Adressaten. Sie haben das Recht, ihre Entscheidung zu fällen. Und wenn Woody Allen nicht angeklagt wird / wurde, ist dies höchstens ein Versagen der Behörde, aber nicht von Hollywood.

    Und dies erstreckt sich meiner Meinung nach auch auf die Zuschauer. Wer für sich beschließt, einen Film mit oder von einer bestimmten Person nicht zu sehen, fällt für sich eine Entscheidung, die man doch bitte akzeptieren sollte. Wer dagegen sagt, dass ihn das Privatleben des Künstlers nicht interessiert, fällt ebenfalls für sich eine Entscheidung, die man doch bitte akzeptieren sollte.

    Daher: Hört damit auf, Leuten vorzuwerfen, dass sie Filme von einem bestimmten oder mit einem Star sehen oder boykottieren, hört auf, sie zu missionieren, dass sie eurer Sichtweise folgen, und hört auf die Stars zu kritisieren, die auf ihre Weise damit umgehen, und ihnen ihr Verhalten vorzuwerfen. Wer Polanski, Affleck und Co. die kalte Schulter zeigen will, soll dies bitte tun. Wer es nicht tun will, soll dies bitte tun!

    Zum Abschluss des Artikels möchte ich kurz noch auf ein sehr interessantes Essay des Drehbuchautors Rafael Yglesias aus dem Jahr 2014 verweisen. Yglesias wurde als acht Jahre alter Junge sexuell missbraucht. 1992 bekam er den Auftrag, für Roman Polanski das Drehbuch zu „Der Tod und das Mädchen“ zu schreiben. In der Geschichte geht es auch noch um eine Frau (Sigourney Weaver), die sich an ihrem vermeintlichen Vergewaltiger (Ben Kingsley) rächen will. „Ich arbeitete mit einem Mann, der ein 13-jähriges Mädchen vergewaltigt hat. Ich wusste, er hat sie vergewaltigt. Jeder wusste, er hat sie vergewaltigt und ich wollte den Job unbedingt haben. Ich habe nicht gezögert, obwohl ich selbst sexuell missbraucht wurde, als ich acht Jahre war“, beginnt er sein sehr lesenswertes Essay. In diesem vertritt er die Meinung, dass Autoren, Schauspieler und Produzenten im Rahmen ihrer Arbeit nur für ihre Qualität und ihre Ideen verantwortlich gehalten werden könnten. Man muss dieser Meinung von Yglesias nicht zustimmen, aber man sollte sie respektieren.

    Wir haben bewusst darauf verzichtet, die Namen der jeweiligen Opfer bzw. anklagenden Personen zu nennen - auch wenn diese mittlerweile im Internet hinreichend dokumentiert sind.

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