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    Übertriebener Marvel-Hype: "Spider-Man: No Way Home" ist viel schlechter als sein Ruf
    Benjamin Hecht
    Benjamin Hecht
    -Redakteur
    Kann es selbst kaum glauben, dass er nach über 30 MCU-Filmen und -Serien noch immer nicht genug von Marvel hat.

    „Spider-Man: No Way Home“ sprengt Rekorde und wird von Fans wie Fachpresse gefeiert. FILMSTARTS-Redakteur Benjamin ist vom neuesten Spidey-Abenteuer jedoch überhaupt nicht begeistert. Für ihn steuert das MCU in eine besorgniserregende Richtung.

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    +++ Meinung +++

    Spider-Man: No Way Home“ ist eingeschlagen wie eine Bombe. Nicht nur wurden Vorverkaufsrekorde gesprengt und am Startwochenende fast 600 Millionen Dollar eingespielt (es zeichnet sich jetzt schon ab, dass „No Way Home“ der erfolgreichste Kinofilm seit Beginn der Corona-Pandemie werden wird), es überschlagen sich auch die Lobeshymnen von Fans und Fachpresse gleichermaßen.

    Laut Rotten Tomatoes sind überragende 94 Prozent der Kritiken und 99 Prozent der Publikumsrezensionen positiv. Bei IMDb steht der Marvel-Blockbuster mit einer Durchschnittswertung von 9,0 sogar auf Platz 10 der besten Filme aller Zeiten (Stand: 24. Dezember 2021)!

    Ich muss gestehen: Angesichts dieser Statistiken bin ich regelrecht schockiert. Dass der neue „Spider-Man“ an den Kinokassen phänomenal laufen würde, war klar. Doch nachdem ich den Film gesehen hatte, hätte ich nie im Leben mit einem solchen Echo gerechnet. Für mich war „No Way Home“ leider nur MCU-Mittelmaß. Umso erstaunter war ich nach der Pressevorführung, als die Kolleg*innen, mit denen ich sprach, allesamt begeistert waren.

    Mir ist also bewusst, dass ich mit meiner Meinung ziemlich alleine dastehe und ich möchte auch niemandem die Freude an „No Way Home“ verderben. Doch mich hat das Multiversum-Abenteuer leider ziemlich kalt gelassen, und allein schon, um zu zeigen, dass auch diese Meinung existiert, muss ich diesen Text einfach schreiben. Doch Vorsicht: Dieser Artikel enthält Spoiler zu „No Way Home“ und den „Spider-Man“-Filmen mit Tobey Maguire und Andrew Garfield!

    Darum wird "Spider-Man: No Way Home" so gefeiert

    Um zu erklären, weshalb ich die Lobeshymnen für „Spider-Man: No Way Home“ für übertrieben halte, möchte ich kurz festhalten, was genau denn überhaupt daran gefeiert wird. Folgende Punkte wurden in meinem Umfeld, aber auch bei meiner Recherche im Internet häufig genannt:

    •  Endlich Konsequenzen: Bei Tom Hollands Spidey ist nicht mehr nur alles Friede, Freude, Eierkuchen. Ganz nach dem essenziellen Spider-Man-Motto „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“ wird er mit den oft auch tragischen Folgen seines Handelns konfrontiert und muss lernen, damit umzugehen.
    •  Tom Holland in Höchstform: Der Spider-Man-Darsteller überzeugt als tragischer Held in seinem schauspielerisch bisher anspruchsvollsten MCU-Auftritt.
    •  Gelungener Fanservice: Die Helden und Schurken aus den anderen Spidey-Dimensionen rufen nicht nur jede Menge nostalgische Gefühle hervor, sondern werden sinnvoll in die Dramaturgie des MCU-Films eingeflochten.
    •  Multiversums-Spektakel: Mit „No Way Home“ sprengt das MCU die Ketten traditioneller Franchise-Erzählungen und liefert einen ersten eindrucksvollen Einblick in das Potential multiversaler Geschichten.

    Es gibt noch viele andere Gründe, warum „Spider-Man: Now Way Home“ so gut ankommt, aber die obigen habe ich persönlich am häufigsten vernommen. Ich kann all dem aber so nicht zustimmen. Für mich gibt es im neuesten Marvel-Film nämlich einige schwerwiegende Fehler, die mir das Kinoerlebnis und eben auch die oben genannten Punkte zunichtemachten.

    "Spider-Man: No Way Home" ist unglaubwürdig

    Das liegt in erster Linie daran, dass die Ausgangslage von „No Way Home“ extrem unglaubwürdig ist. Nicht falsch verstehen: In Filmen, die von Superheld*innen, Magie und Multiversen handeln, erwarte ich keinen Realismus, aber dennoch eine gewisse Glaubwürdigkeit. Diese ensteht dadurch, dass Figuren nachvollziehbar handeln, und mir die im Vergleich zur echten Welt unrealistischen Gesetzmäßigkeiten des fiktiven Settings so erklärt werden, dass sie in sich schlüssig sind. „Spider-Man: No Way Home“ scheitert in beiden Punkten.

    Wenn ich ein Auge zudrücke, kann ich noch darüber hinwegsehen, dass es Peter Parker förmlich darauf anlegt, die Stabilität des gesamten Multiversums zu zerstören, indem er seine eigenen, im Gesamtkontext relativ unbedeutenden Probleme mit Magie zu lösen versucht. Schließlich ist er noch jung, handelt vor allem im Interesse seiner Freunde und kennt einen waschechten Zauberer. Da kann man schon mal in Versuchung kommen.

    Doch wie sich Doctor Strange in dieser Situation verhält, ist so unverständlich, dass es mich den gesamten Film über nicht mehr losgelassen hat. Ohne zu zögern erfüllt er den Wunsch des jungen Helden und klärt ihn vorher nicht ausreichend über die Gefahren auf, die es mit sich bringt, den Zauberspruch während der Beschwörung nochmal abzuändern. Für einen so intelligenten Mann wie Doctor Strange (Benedict Cumberbatch), der in der Vergangenheit stets sehr bedacht mit seinen Kräften umging, wirkt das völlig deplatziert.

    Marvel Studios

    Ähnlich seltsam ist es, dass er anschließend ausschließlich Peter die Schuld für das Misslingen des Spruches zuschiebt und auch der Film (mit Ausnahme eines kurzen Seitenhiebs von MJ) kaum darauf eingeht, wie unglaublich fahrlässig der MCU-Zauberer hier gehandelt hat. Es ist wie die Geschichte vom Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird – nur dass es eben der Hexenmeister selbst ist, der die Geister ruft und dann trotzdem dem Lehrling die alleinige Schuld gibt. Eine fragwürdige Entscheidung und noch lange nicht das einzige Problem von „Spider-Man: No Way Home“.

    Ein unnötiger Todesfall

    Warum lädt Spider-Man fünf Superschurken in Happys Wohnung ein, ohne auch nur irgendeine Vorsichtsmaßnahme zu treffen, dass diese nicht Amok laufen? Zumal es mehr als deutlich ist, dass sie von Peters Plan nicht gerade begeistert sind. Norman Osborn (Willem Dafoe) hält zwar die Fassade des alten, hilflosen Mannes gut aufrecht, aber zumindest bei den anderen, die zuvor schon aggressives Verhalten zeigten, wäre irgendeine Form der Absicherung angebracht.

    Die gibt es zwar theoretisch in Form von MJ (Zendaya) und Ned (Jacob Batalon), die den Zauberwürfel in ihrem Besitz haben. Doch als die Lage eskaliert, nutzt Peter nicht die Möglichkeit, ihn einzusetzen. Er hätte schließlich kurz wegschwingen und MJ anrufen können. Das Problem wäre erledigt und Tante May (Marisa Tomei), die dummerweise auch vor Ort war (sie war Peter wohl nicht so wichtig wie MJ und Ned, die er aus Sicherheitsgründen wegschickte), wäre nicht gestorben.

    Frühere „Spider-Man“-Filme vermittelten diesen Aspekt der Schuld für den Tod geliebter Menschen deutlich besser. Als Onkel Ben in Sam Raimis „Spider-Man“ stirbt, geschieht das, weil Tobey Maguires Peter Parker im Affekt eine verständliche, aber falsche Entscheidung trifft. Andrew Garfields Spidey verliert Gwen Stacy in „The Amazing Spider-Man 2“ dadurch, dass er sich mit einer ebenso nachvollziehbaren Aktion einen mächtigen Feind schuf. In beiden Fällen war Spider-Man für den jeweiligen Tod verantwortlich, aber dennoch spielten auch unglückliche Umstände eine große Rolle, die das ganze erst so tragisch machten.

    In „No Way Home“ wirkt es aber fast so, als wolle Tom Hollands Spidey den Tod einer geliebten Person erzwingen, weil sein Verhalten so übertrieben fahrlässig ist. Tante Mays Tod wirkt weniger wie ein unglücklicher Schicksalsschlag, sondern vom Helden forciert.

    „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“ passt hier nicht, weil Peters Kraft überhaupt nichts mit dem Ableben seiner Tante zu tun hatte. Die Ursachen waren stattdessen mehrere dumme Entscheidungen. Viel treffender könnte man das Zitat in diesem Fall auf Doctor Strange anwenden, doch der wird überhaupt nicht zur Verantwortung gezogen.

    Spätestens an diesem Punkt war der Film schon für mich gescheitert. Anstatt, dass ich bei dem tragischen Tod einer überaus sympathischen Figur mitfühlte, war ich enttäuscht von der unglaubwürdigen und unnötigen Art und Weise, wie dieser zustande kam. Ich hatte den emotionalen Faden verloren und auch Tom Hollands oft gelobte Schauspielleistung konnte so bei mir keine Wirkung entfalten.

    Fanfiction statt Kinomagie

    Zudem wurde auch das Multiversum nie gut genug erklärt, um dieser seltsamen Ausgangslage die nötige Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Warum zum Beispiel ist Tobey Maguires Spider-Man sichtbar 15 bis 20 Jahre gealtert und lebt in einer Zukunft, in der er wohl ein glückliches Leben mit seiner MJ führt, während Norman Osborn und Doc Ock (Alfred Molina) zu diesem Zeitpunkt eigentlich tot sein müssten, also ganz offensichtlich nicht nur aus einer anderen Dimension, sondern auch aus einer anderen Zeit stammen?

    Wieso ist Sandman (Thomas Haden Church) auf einmal dauerhaft aus Sand und muss geheilt werden, während er sich in „Spider-Man 3“ jederzeit verwandeln konnte und am Ende des Sam-Raimi-Films auch schon vollständig geläutert war? Warum ist Electro (Jamie Foxx) plötzlich eine völlig andere Figur als die, die wir aus „The Amazing Spider-Man 2“ kennen? Und wieso wurden eigentlich nur Spinnenmänner und Schurken aus den Raimi- und Webb-Filmen (und „Venom“) in „No Way Home“ eingebaut? Ist das Multiversum wirklich so klein, dass es nur drei Spidey-Varianten gibt?

    Die Antwort auf diese Fragen und auch der Grund für die schlampig zusammengeschusterte Handlung lautet vermutlich: weil es den Verantwortlichen egal war. Bei „Spider-Man: No Way Home“ geht es nicht darum, das MCU glaubwürdig und in sich schlüssig zu erweitern. Der Film ist vor allem ein riesiger Fanservice. „No Way Home“ ist so offensichtlich ein an die Wünsche der Kundschaft angepasstes Entertainment-Produkt, dass mein Kinoerlebnis stark darunter litt.

    Der viel kritisierte „Eternals“ gefiel mir hingegen deutlich besser, weil hier eine klare Handschrift und Vision der Regisseurin erkennbar waren, die nicht darauf abzielten, der breiten Masse bedingungslos alle Wünsche zu erfüllen. Das Ergebnis: „Eternals“ ging als der am schlechtesten bewertete MCU-Film in die Geschichte ein, „No Way Home“ als einer der besten.

    Mich beunruhigt diese Entwicklung. Denn auch Blockbuster sollen ruhig mal Risiken eingehen. Die Gefahr zu scheitern ist dabei zwar höher, aber nur so kann auch etwas neues Großes entstehen – visionäre Popkultur, die die Gesellschaft formt, wie es einst etwa „Star Wars“ und „Matrix“ taten. Der aktuelle Trend verläuft jedoch eher ins Gegenteil. Der durch das Internet und Big Data gläsern gewordene Fan wird genauestens analysiert und ein maßgeschneidertes Produkt angefertigt, das den meisten Profit verspricht. 

    Die Handlung von „Spider-Man: No Way Home“ hätte früher höchstens für einen Post in einem obskuren Fan-Fiction-Forum gereicht, im Jahr 2021 ist daraus der größte Kinofilm des Jahres geworden, der trotz Pandemie locker die Milliarde-Dollar-Marke übertreffen wird. Sollte „No Way Home“ aufgrund seines enormen Erfolgs die Blaupause für kommende Marvel-Filme abgeben, dann sehe ich der Zukunft des MCU und des Blockbuster-Kinos mit großer Skepsis entgegen.

    "Spider-Man: No Way Home", der beste Marvel-Film des Jahres?

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