Mein Konto
    Tatort: Ich hab im Traum geweinet
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tatort: Ich hab im Traum geweinet

    TV-Skandal mit Ansage

    Von Lars-Christian Daniels

    In der fast fünfzigjährigen Geschichte der erfolgreichsten deutschen Krimireihe spielten schon mehrere Folgen in der sprichwörtlichen „fünften Jahreszeit“: 1994 musste zum Beispiel der Stuttgarter Hauptkommissar „Ärnschd“ Bienzle (Dietz-Werner Steck) im „Tatort: Bienzle und das Narrenspiel“ während der schwäbisch-alemannischen Fastnacht in Ravensburg den Tod eines Bankangestellten aufklären. Im Luzerner „Tatort: Schmutziger Donnerstag“ von 2013 schlüpften die Schweizer Ermittler sogar zu Tarnungszwecken in schräge Kostüme – und im Kölner „Tatort: Tanzmariechen“ von 2017 suchten die Kommissare den Mörder in einem Karnevalsverein.

    Mit diesen drei klassischen (um nicht zu sagen: biederen) Krimis hat der „Tatort: Ich hab im Traum geweinet“ allerdings nur den Faschingstrubel gemein: Filmemacher Jan Bonny, der in den letzten Jahren unter anderem mit zwei vielgelobten Münchner „Polizeiruf 110“-Folgen für Aufsehen sorgte, bricht in seinem aufwühlenden Film gleich reihenweise mit den Sehgewohnheiten des Publikums. Das stellenweise nur schwer auszuhaltende, aber unheimlich intensive Krimidrama wartet mit drastischen Sex- und Gewaltdarstellungen auf und ist nicht weniger als eine der provokantesten und skandalträchtigsten „Tatort“-Folgen aller Zeiten – bei großen Teilen des Publikums wird es der Film daher auf diesem Sendeplatz unheimlich schwer haben.

    Nach der durchsoffenen Faschingsnacht kommen sich die Komissare sehr viel näher, als sie sich jemals vorstellen konnten.

    Der Schwarzwald befindet sich im Ausnahmezustand: Es wird Fasnet gefeiert! Auch die Freiburger Hauptkommissare Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) stürzen sich ins Getümmel – und kommen sich nach einer alkoholschwangeren Party näher, als sie es je für möglich gehalten hätten. Am Morgen danach müssen sie allerdings einen Mordfall aufklären: Der Karlsruher Richter Philipp Kiel (Andreas Döhler), der seine Gattin Elena (Bibiana Beglau) für eine Schönheits-OP in den Schwarzwald begleitet hat, liegt erschlagen in seinem Hotelzimmer. Unter Tatverdacht gerät Romy Schindler (Darja Mahotkin), die in der Klinik als Krankenschwester tätig ist: Sie hat früher für einen Escortservice gearbeitet und sich auf ein erneutes Date mit ihrem Ex-Kunden Kiel eingelassen, nachdem dieser sie wiedererkannt hat. Auch Romys Lebensgefährte David Hans (Andrei Viorel Tacu) dürfte das Techtelmechtel wenig gefallen haben…

    Für seinen ersten „Tatort“ bezog Regisseur Jan Bonny, der das Drehbuch zu seinem zweiten Fadenkreuzkrimi wie schon bei seinen Kinofilmen „Wintermärchen“ oder „Jupp, watt hamwer jemaht?“ mit Jan Eichberg geschrieben hat, vor knapp drei Jahren ordentlich (verbale) Prügel: Sein vielfach verschobener und ungewohnt sperriger „Tatort: Borowski und das Fest des Nordens“ zählt zu den anstrengendsten Folgen der jüngeren Vergangenheit und fiel bei den meisten Zuschauern sang- und klanglos durch. Ein ähnliches Schicksal dürfte Bonny auch diesmal wieder ereilen, denn bei seiner zweiten Arbeit für die Krimireihe geht der Feuilleton-Liebling keineswegs Kompromisse ein: Sein „Tatort: Ich hab im Traum geweinet“, dessen Filmtitel ein Zitat aus Heinrich Heines Gedichtsammlung „Buch der Lieder“ aufgreift, bricht mit zahlreichen ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe und versucht gar nicht erst, sich in ein erzählerisches Korsett pressen zu lassen.

    Sex & Crime

    Wenngleich die Auflösung der Täterfrage zumindest pro forma bis in die Schlussminuten offen bleibt, hat Bonnys Film mit einem klassischen Sonntagskrimi wenig zu tun – das geht schon damit los, dass die Leiche erst nach über einer halben Stunde gefunden wird und die Vorgeschichte zum Mord mehr Raum einnimmt, als der Zuschauer das heutzutage gewöhnt ist. In den 70er und 80er Jahren waren solche erzählerischen Ausreißer keine Seltenheit und auch nackte Tatsachen gab es damals schon zu sehen – wenn man allerdings bedenkt, dass 1977 der blanke Busen der minderjährigen Nastassja Kinski dem „Tatort: Reifezeugnis“ seinen Platz in den Geschichtsbüchern sicherte, wäre das, was wir in Bonnys „Tatort“ zu sehen bekommen, in den Augen der Zuschauer damals wohl dem Untergang des Abendlandes gleichgekommen.

    Aber auch im Jahr 2020 mag man manchmal kaum hinsehen: In der 1121. „Tatort“-Ausgabe wird nicht nur gesoffen, gestritten und geprügelt – es wird auch pausenlos und in aller Nacktheit vor der Kamera gevögelt. Die Freiburger Kommissare, die in den letzten Monaten mit dem verschachtelten „Tatort: Damian“ und dem mit dem Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichneten „Tatort: Für immer und dich“ Furore machten, bilden da keine Ausnahme: Tobler und Berg haben stockbesoffen ungeschützten Sex vor der Kamera – das hat es im „Tatort“ in dieser Form noch nicht gegeben und stellt das vergleichsweise brave Gebaren von Ermittlerpärchen wie den Dortmunder Kollegen Dalay (Aylin Tezel) und Kossik (Stefan Konarske) oder den Weimarer Kommissaren Lessing (Christian Ulmen) und Dorn (Nora Tschirner) mühelos in den Schatten.

    Die Ermittler werden nicht nur beim Fasching, sondern vermutlich auch vom ARD-Stammpublikum eine Menge Prügel einstecken müssen.

    Auch die Ermittlungsarbeit, die wir aus anderen „Tatort-Folgen“ gewöhnt sind, dauert hier kaum mal mehr als drei Minuten am Stück: Besonders Berg weiß nach dem Ausrutscher nicht, wie er mit der Situation umgehen soll, während Tobler nach dem One-Night-Stand vor den Scherben ihrer Beziehung steht. Im Präsidium wird gekeift, gebrüllt und mit Gegenständen aufeinander geschmissen – das sind Szenen, die manchmal eher an Rainer Werner Fassbinders „Katzelmacher“ erinnern als an einen klassischen „Tatort“. Dabei neigt Bonny aber zur Repetition: Eine dritte Faschingsparty, bei der sich Tobler und Berg erneut der Ausgelassenheit hingeben, hätte es nicht zwingend gebraucht – etwas zu kurz kommt dafür Bibiana Beglau („Über Barbarossaplatz“), die in ihrer Rolle als bandagierte Schönheitspatientin aber zumindest die beste und zugleich bitterste Filmszene für sich verbuchen darf (Stichwort: Überbringen der Todesnachricht).

    Wer sich mit der authentisch-rauen Tonalität, der nüchternen Inszenierung, den für Bonny typischen, fast quälend langen Gewaltdarstellungen, der dokumentarisch angehauchten Erzähltechnik aus wackeliger Handkamera und wenig ohrenfreundlich abgemischter Geräuschkulisse sowie dem starken Fokus auf die Gefühlswelt aller Beteiligten anfreunden kann, wird allerdings mit einem außergewöhnlichen und mitreißenden Fernsehfilm belohnt. Auch der Cast ist erste Sahne, denn vor allem die in der Krimireihe noch unverbrauchten Nebendarsteller Darja Mahotkin („Dogs Of Berlin“) als fast nymphomanisch veranlagte Femme Fatale und Andrei Viorel Tacu („Jagdzeit“) in seiner Rolle als eifersüchtiger Chirurg werfen alles in die Waagschale und arbeiten sich bei ihrem bemerkenswerten „Tatort“-Debüt überragend aneinander ab.

    Adresse für Beschwerdemails gibt es auf der ARD-Homepage

    Dass der „Tatort: Ich hab im Traum geweinet“ – gerade im Vergleich zum Kölner „Tatort: Franziska“, der 2014 erst nach 22 Uhr gezeigt werden durfte – überraschenderweise zur gewohnten Sendezeit um 20.15 Uhr läuft, wird wohl dazu führen, dass er Zuschauerzahlen im siebenstelligen Bereich verliert – ein paar mehr Zugeständnisse an das Stammpublikum der Krimireihe hätten sicher ihren Teil zum Frieden zwischen der ARD und ihrem Publikum beigetragen. So aber wird Bonnys Film garantiert für Empörung, Beschwerdemails an die Verantwortlichen und heiße Diskussionen in den heimischen Wohnzimmern sorgen. Für die über weite Strecken so eintönige und durchgeplante deutsche Fernsehlandschaft kann das nur ein Gewinn sein.

    Fazit: Ein „Tatort“ wie fünf Tage Fasching – voll anstrengend, volltrunken und voller Sex. Danach hat man einen gewaltigen Kater – und auch viel zu erzählen.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top