Die Dardennes haben ihren sozialkritischen Biss verloren
Von Michael MeynsWenige Regisseure haben das europäische Arthouse-Kino der letzten Jahrzehnte so sehr geprägt wie die belgischen Brüder Luc Dardenne und Jean-Pierre Dardenne, die 1999 mit ihrem großen Durchbruch „Rosetta“ völlig überraschend die Goldene Palme gewannen (und den wichtigsten Preis beim Filmfestival in Cannes nur sechs Jahre später mit „Das Kind“ gleich noch einmal abräumen konnten). Mit extrem mobiler Handkamera wurde damals die Titelfigur verfolgt, oft von hinten, schonungslos beobachtend, wie sich das junge Mädchen durch eine harsche Welt schlägt. Seitdem haben die Brüder diesen Ansatz immer wieder variiert:
Mal haben sie ein Duo in den Mittelpunkt gestellt („Tori & Lokita“), sich mal in Richtung Melodram bewegt („Lornas Schweigen“), mal mit Schauspielstars statt Laien gedreht (Marion Cotillard erhielt für „Zwei Tage, eine Nacht“ sogar eine Oscarnominierung als Beste Hauptdarstellerin). Ihr neuer Film „Young Mothers“ wirkt nun vor allem wie eine Reminiszenz an die Dokumentarfilme, die die Dardennes vor ihrem Wechsel ins Spielfilmfach gedreht haben. Der Film beobachtet mehr, als dass er dramatisch zuspitzt – und er stellt zudem gleich vier sehr junge Mütter in den Mittelpunkt, deren ähnliche Schicksale das Thema weniger variieren als zunehmend redundant umkreisen.
In einer Unterkunft für minderjährige Frauen, die noch schwanger sind oder gerade ein Kind bekommen haben, treffen unterschiedliche Schicksale aufeinander: Julie (Elsa Houben) war einst ebenso drogensüchtig wie ihr Freund Dylan (Jef Jacobs), der mittlerweile eine Bäckerlehre angefangen hat. Gemeinsam versuchen sie, von den Drogen wegzubleiben und ihr gemeinsames Kind zu betreuen. Doch Julie droht immer wieder, rückfällig zu werden.
Perla (Lucie Laruelle) hingegen neigt zum Jähzorn und versucht, den ebenfalls minderjährigen und völlig unreifen Baby-Vater Robin (Gunter Duret) zu einer gemeinsamen Zukunft zu überreden. Ariane (Janaina Halloy Fokan) will ihr Baby zur Adoption freigeben, denn eigentlich wollte sie es nie bekommen. Allein der Druck ihrer alkoholsüchtigen Mutter, die das Baby vor allem als zweite Chance für ihr eigenes verkorkstes Leben zweckentfremden will, verhinderte eine Abtreibung. Schließlich ist da noch Jessica (Babette Verbeek), die vor der Geburt ihrer eigenen Tochter einen gewaltigen Druck verspürt, herauszufinden, warum ihre unbekannte Mutter sie damals weggegeben hat…
Die Themen werden den Dardenne-Brüdern sicher nicht ausgehen. Zu viele soziale Missstände und Ungerechtigkeiten müssen noch angeprangert, zu viel soziale Verwerfungen thematisiert werden. Ob das Thema Teenager-Schwangerschaften in Belgien gerade besonders aktuell ist und sich die Dardennes deshalb damit beschäftigen? Oder wollten sie einfach auf ein Problemfeld aufmerksam machen, das hinter aktuelleren, vielleicht auch heißer diskutierten Thematiken gerne übersehen wird? Jedenfalls haben die Brüder eine für sie durchaus ungewöhnliche Form gewählt, denn „Young Mothers“ wirkt angesichts seiner vier Hauptfiguren wie ein Episodenfilm. Bei einer Länge von knapp über 100 Minuten bedeutet das: Jede der vier jungen Mütter taucht ungefähr 25 Minuten auf, nicht am Stück, sondern von den anderen Schicksalen unterbrochen. Überschneidungen, etwa bei Gruppenszenen in der gemeinsamen Unterkunft, gibt es nur ganz wenige.
Die Dardennes entwerfen kleine Handlungsbögen für jede Figur. Prägnant werden das jeweilige Schicksal, die Hintergründe, die Probleme und die Ziele skizziert – und nach teils durchaus harschen Rückschlägen endet jede der Episoden doch mehr oder weniger versöhnlich. Perla etwa ist anfangs noch mit dem Vater ihres Kindes zusammen, oder zumindest glaubt sie das. Eine gemeinsame Wohnung scheint die Basis für alles zu sein, doch erst klappt es mit dem Mietvertrag nicht, dann beendet der Freund plötzlich die Beziehung. Perlas einziger Anker ist ihre große Schwester, die auch Perlas immer wieder auftretenden Wutausbrüche erträgt und ihr am Ende Unterkunft und Halt gibt.
Viele Episoden sind ein wenig schematisch gestaltet, gerade angesichts der Kürze der Zeit, die die Dardennes für jede ihre Figuren zur Verfügung haben. Manchmal wirken sie sogar ein wenig kursorisch und überhastet. Ohne die nötige erzählerische Vorbereitung eskalieren bisweilen die Konflikte zwischen den jungen Frauen und ihrer Umwelt, lösen sich dann aber ebenso schnell wieder auf. Denn die Zeit, ausführlicher und vor allem genauer zu erzählen, fehlt ganz einfach. Dabei war Genauigkeit stets eine der großen Stärken der Dardennes. Mit oft schwer zu ertragender Präzision nahmen sie ihre Figuren unter die Lupe, stellten sie in ein soziales Gefüge und beobachteten, wie die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu oft ungerechtem, manchmal auch kriminellem Verhalten führten.
Von dieser Schärfe und auch dieser Härte ihres Blicks ist in „Young Mothers“ kaum mehr etwas zu spüren. Erstaunlich harmlos wirken die Episoden oft, lösen sich zwar nicht unbedingt in einem Hollywood-tauglichen Wohlgefallen auf, enden aber durchweg hoffnungsvoll. Auch von der dramatischen Zuspitzung, dem oft kaum zu ertragenden Druck, mit dem die Dardennes ihre Figuren sonst meist konfrontieren und zu unmöglichen moralischen Entscheidungen zwingen, ist diesmal nur in Ansätzen etwas zu entdecken. Stattdessen wirkt „Young Mothers“ wie ein typischer Problemfilm, der ein fraglos wichtiges Thema beschreibt, ohne wirklich wehtun zu wollen. Nur in manchen Szenen gelingt es den Dardennes, jene emotionale Kraft zu entfalten, die ihre besten Filme so besonders gemacht haben. So versöhnlich und auch ein bisschen beliebig wie hier waren die Dardennes jedenfalls lange nicht mehr.
Fazit: In ihrem neuen Film „Young Mothers“ nehmen sich die Dardenne-Brüder dem Thema Teenager-Schwangerschaften an. Diesmal stellen sie gleich vier Hauptfiguren in den Mittelpunkt, was zu verkürzten Charakterisierungen führt, die nur in wenigen Momenten die Emotionalität entwickeln, für die das belgische Regie-Duo eigentlich bekannt ist.
Wir haben „Young Mothers“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.