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    Ein Prophet
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Ein Prophet
    Von Jan Hamm

    Die Oscar-Gala 2010 wird mit Kathryn Bigelows Triumph (Bester Film und Beste Regie für Tödliches Kommando) über Ex-Gemahl James Cameron (Avatar) vor allem als David-gegen-Goliath-Spektakel in Erinnerung bleiben. Weniger schlagzeilenträchtig, nicht aber weniger spannend, war dabei der hochkarätige Nebenschauplatz des Besten Fremdsprachigen Films. Wäre die Kategorie unter einem Motto gelaufen, es hätte „Anatomien der Gesellschaft“ lauten müssen: Der argentinischer Sieger „El Secreto De Sus Ojos“, Michael Hanekes Vorkriegs-Sittengemälde Das weiße Band, die Nahost-Konfliktstudie Ajami und Jacques Audiards „Ein Prophet“ aus Frankreich - sie alle sezieren soziale Mikrokosmen und erzählen darüber von umfassenderen, von mentalen und politischen Konfigurationen. Mit seiner provokanten Thesenhaftigkeit ist Audiards Gefängnis-Drama selbst in derart illustrer Runde eine Besonderheit: Selten war die Momentaufnahme einer kriminell aufsteigenden Unterschicht derart kühl erzählt, selten ihre Implikation so bedrohlich. Im knisternden Spannungsfeld zwischen Psychothriller und Genre-Opus à la Martin Scorsese (GoodFellas) oder Francis Ford Coppola (Der Pate), zwischen cineastischem Bildungsroman und foucault'schem Albtraum, entfaltet Audiard eine hochspannende Crime-Saga, die mit selbstsicherer Inszenierung und eindringlichen Darstellern vollends überzeugt.

    Als der 19-jährige Malik El Djebana (Tahar Rahim, Inside) seine sechsjährige Haftstrafe antritt, ist er ein Niemand ohne soziale und wirtschaftliche Verankerung. Schnell verwirklicht er eine Überlebenstaktik, die zu Beginn vor allem bedeutet, Hierarchien auszuloten und den schwelenden Konflikt zwischen Korsenmafia und Muslimen zu umtänzeln. Die erste Stufe der Rangleiter erklimmt Malik mit einem Auftragsmord für den Knastpaten César Luciano (Niels Arestrup, Schmetterling und Taucherglocke). Während er von der Erscheinung des Toten heimgesucht wird, lernt der Analphabet nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch den korsischen Dialekt. Fortan engagiert Luciano ihn als Spitzel, verschafft ihm Gefängnisprivilegien und schickt ihn als rechte Geschäftshand auf Freigang. Doch Malik verfolgt eigene Ziele und knüpft Kontakte zur muslimischen Seite, auf der er in Ryad (Adel Bencherif) einen weiteren Förderer findet - bis sich der gleichermaßen rassistisch und machtpolitisch motivierte Grabenkampf hinter Gittern einmal mehr zuspitzt und sein feingliedriges Bündnisnetzwerk ultimativ auf die Probe gestellt wird...

    Spätestens seit seinem 2005er-Erfolg Der wilde Schlag meines Herzens gilt Jacques Audiard als einer der profiliertesten Regisseure Frankreichs. Für „Ein Prophet“ kassierte er neben anderen Auszeichnungen den großen Preis der Jury in Cannes und setzt sich damit endgültig in der Spitze des französischen Films fest. Und der Film hält, was die Festival-Lobeshymnen seit Monaten verkünden: „Ein Prophet“ zelebriert wahrhaft monströses Kino. Vor dem lose angedeuteten Hintergrund der sogenannten Banlieue-Problematik erzählt Audiard die Geschichte eines muslimischen Nobodys, der hinter Gittern zum Crime-Lord geschult wird. Dass Mord dabei noch vor der Alphabetisierung steht, ist eine grimmige Pointe: Wer keine soziale Perspektive hat, kann im Gefängnis - der Universität des Verbrechens - eine neue Identität begründen. Verschärft wird die zeitgeschichtliche Relevanz durch das titelgebende Spiel mit Fragmenten muslimischer Spiritualität. Wenn tatsächlich eintreffende Traumbilder Maliks mit der spöttisch-verunsicherten Frage quittiert werden, ob er sich für einen Propheten halte, kommt Audiards keineswegs ironisch gebrochene These auf den Punkt.

    Ja, sein Protagonist ist ein Prophet, der Herold eines Kampfes, der staatlicherseits mit katatoner Hilflosigkeit geführt wird. Alte Krisen verglühen im Feuer der Banlieue-Problematik und ihrer Auswüchse, etwa symbolisiert durch Luciano, den Respräsentanten der Konfliktzone Korsika. Audiard baut diesen Wandel mit seiner Figurenkonstellation aus. Für den entwurzelten Malik nimmt Luciano eine pervertierte Vaterrolle ein. Er ist der gestrenge Patriarch, der im Zuge der Adoleszenz zwangsweise überwunden werden muss, nachdem sein kriminelles Wissen auf die folgende Generation übergegangen ist. Im ausgefeilten Verhältnis zwischen Malik und Luciano, ebenso aber in der ganzen Aufstiegsgeschichte des Protagonisten, spiegelt sich die dramaturgische Genre-Kunde Audiards, der Mafiaklassiker nie bloß repliziert, sondern eine eigene Filmsprache für die entsprechenden Topoi findet.

    Mit unprätentiösem Realismus inszeniert er die Ränkespiele als indifferenten Überlebenskampf, als - mit den Worten von Oscar-Konkurrent Haneke gesprochen - Vergletscherung der Gefühle. Wer erfolgreich in der Peripherie der Gesellschaft wandeln will, muss diese exzessive Körperlichkeit aushalten können; das lässt Audiard auch sein Publikum spüren. Gleich Maliks erster Mordauftrag entgleist vollends. Mit einem Blowjob soll er Reyeb (Hitchem Yacoubi) locken, um dann eine zwischen den Zähnen verborgene Rasierklinge in dessen Hals zu schlagen - nachdem er sich mit seiner Tatwaffe bereits im Probedurchgang den Rachen blutig geschnitten hat. Doch der Todeskandidat wittert Lunte und es kommt zu einem qualvollen Gerangel. Ob Reyebs geisterhafte Heimsuchung fortan ein Trauma visualisiert, oder ob hier auf die einen Propheten auszeichnenden Visionen referiert wird, überlässt Audiard der Lesart.

    Der 27-jährige Tahar Rahim erweist sich als grandiose Besetzung der Hauptrolle. Sein Oberlippenflaum unterstreicht die Jugendlichkeit, die vermeintliche Beschreibbarkeit, mit der Malik sich unauffällig gibt. Gefühlsregungen deutet Rahim an, wenn er über die Aufträge anderer erfolgreich eigene Schachzüge realisieren kann. Im Moment der Gewalt aber versteinert seine Mine, bleibt sein Antlitz rätselhaft. Audiard verweigert sich vordergründiger Psychologisierung und beweist damit thematische Konsequenz: Die Person Malik wird im Gefängnis neu geboren, sein Wesen vor dem Tabula Rasa spielt keine Rolle. „Ein Prophet“ ist nicht um eine Biographie herum aufgebaut, sondern bildet Stukturen ab - so entwickelt der Film bis hin zur einmal mehr provokant mit dem Titel hantierenden Schlusseinstellung enorme Sprengkraft. Auch ohne Oscar wird Audiards betäubend brutale und intelligent um Genre-Fundamente konstruierte Erzählung ein langes Echo beschert sein.

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