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    This is England
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    This is England
    Von Jan Görner

    So wie bei jeder großen Nation definiert sich auch die Geschichte Englands nicht nur über ihre Erfolge, sondern vor allem auch über ihre Krisen. Die turbulenten Jahre der Regierung Thatcher werden in Großbritannien etwa bis heute kontrovers diskutiert. Mitten während eines tiefgreifenden wirtschaftlichen Umbruchs gibt das Inselreich im Falklandkrieg seinen Abschied von der Bühne der Großmachtpolitik. In seinem 2007 erschienenen Drama „This Is England" arbeitet Regisseur und Drehbuchautor Shane Meadows diese Geschichte semi-autobiographisch und unprätentiös auf.

    Die englischen Midlands, 1983: Shaun (Thomas Turgoose) ist zwölf Jahre alt, schmächtig und stets bemüht nicht aufzufallen. Er lebt allein mit seiner Mutter, seitdem sein Vater im Falklandkrieg gefallen ist. Shauns Mitschüler haben für den biederen Außenseiter nur Verachtung übrig. Als sich eine Gruppe von Skinheads des Jungen annimmt, spürt er das erste Mal so etwas wie Zugehörigkeit. Die Gang wird zu seiner Ersatzfamilie, ihr Anführer Woody (Joe Gilgun) zu einem brüderlichen Freund. Nach und nach taucht Shaun in die Kultur der britischen Arbeiterkinder ein und knüpft zarte Bande zu der Punkerin Smell (Rosamund Hanson). Shaun nimmt eine neue Identität an. Doch all das ändert sich, als eines Tages der deutlich ältere Combo (Stephen Graham) nach einer Haftstrafe die Führung der Gruppe für sich beansprucht. Indoktriniert mit rassistischem Gedankengut, versucht er die Skinheads für die rechtsextreme British National Front zu instrumentalisieren. Zunächst folgt auch Shaun ihm blind...

    „This Is England" steht in der Tradition sogenannter britischer „Kitchen Sink"-Dramen. Diese Milieustudien folgen üblicherweise Eigenbrötlern, die versuchen, ihre Träume zu verwirklichen oder Ängste zu besiegen. Die Authentizität dieses Genres speist sich dabei besonders aus der realistischen Darstellung gesamtgesellschaftlicher und privater Zustände. So hat sich das Genre von einer bewusst gegenwartsbezogenen Sozialanalyse der 1950er und 1960er Jahre zu einem festen Bestandteil der britischen Filmkunst gewandelt. Dass sein Film dennoch nicht zu einer trockenen Theorie-Doppelstunde ausartet, verdankt Meadows neben Ausstattung und Musik, die einen unvergleichlichen Zeitkolorit liefern, vor allem seinen ausgezeichneten Darstellern.

    Der Schauspieler-Riege um Meadows-Stammkraft Andrew Shim („Blutrache") gelingt es, die Wut und Hilflosigkeit der Thatcher-Jugend einzufangen. Die Angst, als Kanonenfutter oder Wirtschaftsverlierer zu enden, ist überaus glaubwürdig gespielt und inszeniert. Auf der anderen Seite funktioniert Joe Gilguns („Harry Brown") Leistung als lebenslustiger Woody ebenso gut, ist sie doch ein bewusster Entwurf wider die Trostlosigkeit des namenlosen Schauplatzes. Als die Entdeckung des Streifens darf jedoch ohne Zweifel Thomas Turgoose als Shaun gelten. Er haucht dem verschüchterten Halbwaisen mit einer hinreißenden Melancholie Leben ein. Nachdem sich Shaun zum Rassisten wandelt, erkennt man aber auch in Turgoose Performance keine Spur dieser Unschuld mehr. Er wirkt beängstigend freudlos. Turgoose ist Herz und Seele dieser Szenenstudie und erfüllt seine Rolle mit einer für sein Alter bemerkenswerten Professionalität. Die Wandlung eines Jungen, die sich in nur einem Monat während der Sommerferien 1983 abspielt, bleibt dabei stets glaubhaft. Es wird deutlich, dass Meadows seine Figuren kennt und versteht, und so zeigt er auch den selbsternannten Skinhead-Krieger Combo stellvertretend für die Szene als einen irrlichternden 32-jährigen Jungen, in dem Innenleben und Auftreten in krassem Widerspruch zueinander stehen. Die Geschichte dieser Figuren wird in der ebenfalls von Meadows erdachten Spin-Off-Serie „This Is England '86", die sich dem Mod-Revival widmet, teilweise weitergeführt, wobei auch Nebenfiguren wie Woodys Freundin Lol (Vicky McClure) mehr Tiefe erhalten.

    Die Skinheads in „This Is England" sind Vertreter der zweiten Generation der Bewegung, die in den späten 1960ern auf der Liebe eines Teils der weißen Arbeiterschicht zur Reggea- und Ska-Musik der karibischen Einwanderer gründet. Besonders in Deutschland greift immer noch allzu schnell der Reflex Raum, der Skinheads und Neo-Nazis gleichsetzt. In der Tat kennt diese Jugendkultur zahlreiche, teilweise untereinander verfeindete Fraktionen, die von ihrer jeweiligen politischen Überzeugung (sofern vorhanden) von der extremen Rechten bis in die radikale Linke rangieren. Da an dieser Stelle mitnichten der richtige Platz ist, diese zu diskutieren, sei auf Daniel Schweizers hervorragende Dokumentation „Skinhead Attitude" verwiesen, die einen guten Überblick über das Thema verschafft.

    Auch Regisseur Meadows zeichnet ein differenziertes Bild der Skinhead-Subkultur. In der Spaltung der Gang kommt eine unbarmherzige Offenheit, auch seiner Hauptfigur Shaun gegenüber, zum Ausdruck. Erlebnisorientierte Jugendliche wandeln sich schnell zu Duckmäusern, die nur zu gerne ihren rebellischen Impetus für eine wie auch immer geartete Vision hergeben. Dass dies nicht lächerlich daherkommt wie etwa im deutschen Genre-Beitrag „Führer Ex", ist vor allem Meadows untrüglichem Gespür für seine Figuren geschuldet. Mit dem Fokus auf den Figuren trudelt das Drehbuch allerdings einem etwas unbefriedigend wirkenden Ende entgegen.

    Fazit: Fernab des Pathos von „American History X" oder des Krawalls von „Romper Stomper", entwirft Shane Meadows ein fesselndes Drama, eine Geschichte über bedingungslose Zuneigung und versteckte Liebe, aber auch - und vor allem - über offenen Hass.

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