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    Begegnungen am Ende der Welt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Begegnungen am Ende der Welt
    Von Carsten Baumgardt

    Ob es eines seiner Ziele war, ist nicht überliefert. Doch die historische Tat ist vollbracht: Der Filmemacher Werner Herzog hat durch seine mitreißende Antarktis-Dokumentation „Encounters At The End Of The World“ nun ganz offiziell auf allen sieben Kontinenten der Erde gedreht [1]. Wahrscheinlich ergab sich dieser Umstand zufällig bzw. zwangsläufig, zumal Superlative den in Los Angeles lebenden Münchner ohnehin nie interessierten. Vielmehr reizt den Regisseur das Abseitige, das Wirre, das Bizarre, das Außergewöhnliche, das Fremde. Eben diese Themen und Typen findet Herzog am sprichwörtlichen wie tatsächlichen Ende der Welt. Auf Einladung der National Science Foundation reiste er zur McMurdo-Forschungsstation auf Ross Island, Antarktis. Herzog ist hier sichtlich in seinem Element. Er verbindet atemberaubende Naturaufnahmen brillant mit seinen kleinen, skurrilen Porträts der Bewohner von McMurdo und schafft es so, den Mikrokosmos der Forschungsstation für Außenstehende greifbar zu machen.

    Ausgelöst wurde Herzogs Interesse an der Antarktis durch seinen Musiker-Freund Henry Kaiser, der „Encounters At The End Of The World“ im Übrigen auch produziert hat. Der begeisterte Hobbytaucher zeigte dem Filmer Unterwasseraufnahmen aus dem McMurdo-Sund in der Antarktis. Diese schwer faszinierenden Bilder band Herzog bereits in seine bizarre Science-Fiction-Fantasie The Wild Blue Yonder ein, wollte aber mehr über diesen seltsamen Ort fern der Zivilisation erfahren. Getrieben von unbändiger Neugier macht sich der Regisseur auf, die McMurdo-Station zu erkunden. Was er zu Beginn sieht, stößt ihn erst einmal ab. Die gut 1.000 Seelen starke Forschungseinrichtung sieht aus wie eine Containersiedlung in einem großindustriellen Abbaugebiet. Doch die Station hat ihre eigene Infrastruktur, die der einer Kleinstadt gleicht. Sogar einen Geldautomaten gibt es in McMurdo.

    Herzog findet schnell, wonach er eigentlich sucht: Sein Blick für Exzentrik und Sonderbarkeiten ist famos, schließlich liegt er selbst diesen Tugenden beileibe nicht fern. Zum Einstieg offenbart der Filmemacher - der das Treiben mit seinem gewohnt knochentrockenen, fatalistischen Off-Kommentar begleitet - eine erst in den vergangenen Jahren hinzugewonnene Eigenschaft: Humor. Oder präziser gesagt: Ironie, die zuweilen in Sarkasmus ausschlägt. Am augenscheinlichsten zu bewundern ist dies, wenn Neuankömmlinge für Schneestürme geschult werden und dabei mit großen Eimern über den Köpfen die Orientierungslosigkeit simuliert wird. Doch zu viel Sicherheit ist Herzog fremd, weswegen er dieses seltsame Treiben eher mit Argwohn mürrisch verfolgt. Humoresk gestaltet sich auch der Blick in den Bauch des Transportflugzeugs, in dem ein Team von Wissenschaftlern anreist. Dort sieht es aus wie in einer chaotisch (un-)sortierten Lagerhalle, in der sich die Insassen mit ihren Schlafsäcken kreuz und quer zwischen all dem technischen Equipment breit gemacht haben. Diese Anordnung lässt sich durchaus als Äquivalent für das Innere der Forscherköpfe ansehen. Die Gedankengänge der in anderen Sphären schwebenden Wissenschaftler sind einem normalsterblichen Publikum auf den ersten Blick völlig fremd. Weltliche Dinge haben hier in erster Instanz eine krasse Irrelevanz, nur das Forschen im jeweiligen Sujet existiert als realer, primärer Lebensinhalt. So ist es Herzogs Verdienst, dass er seinen Zuschauern diese abgeschlossene, autarke Welt am Ende der Welt verständlich macht.

    Dem „Entdecker“ Herzog schüttet sich ein wahres Füllhorn an hochinteressanten Charakteren aus, von denen fast jeder einzelne einen eigenen Film wert gewesen wäre. Das garantiert einige dieser berühmten Herzog’schen Momente - zum Beispiel, wenn Zellularbiologe Sam Bowser, ein glühender Verehrer vom Sci-Fi-Trashfilmen der Fünfzigerjahre, auf dem Dach seines Containers mit der E-Gitarre rockt, als gäb’s kein Morgen mehr. Jedes Mitglied des Völkchens in McMurdo hat seine Anekdoten zu erzählen. Ob es der Banker aus Colorado ist, der nun als Busfahrer arbeitet und sich einst im Dschungel aus einer tödlichen Bedrohung herausgeredet hat, um nicht mit einer Machete filetiert zu werden oder die Forscherin, die bei einer Expedition in Afrika nur knapp dem Tode entkommen ist und später in Südamerika tagelang auf der Ladefläche eines Lkw in einem Abwasserrohr ausharren musste. Jeder hat seine Geschichten mitzuteilen. Und diese sind in höchstem Maße unterhaltsam, abenteuerlich und originell.

    Doch das ist nur die eine Seite der Dokumentationsmedaille. Die aus der Leinwand herausbrechende Weite und Schönheit der Natur interessiert Herzog zwar nur am Rande, die dazugehörigen umwerfenden Bilder ergeben sich aber quasi in der Chronistenpflicht von selbst. Der Regisseur impliziert hier sein ureigenes Credo von der menschenfeindlichen, unwirtlichen Natur der Natur (Herzog im Off-Kommentar: „Human life is part of an endless chain of catastrophes.”). Das wird auch bei den bizarren Unterwasseraufnahmen, die tief unter dem Eis entstanden, deutlich. Solch eine Photographie war bisher noch nicht auf einer Kinoleinwand zu sehen. Die Welt unter dem „Dort-unten“ wirkt wie ein fremder, karger, unwirtlicher Planet. Auch die Tonebene hat etwas Faszinierendes zu bieten, wenn Bilder mit Robbengesängen und Unterwassergeräuschen untermalt sind, die ebenso sakral anmuten wie der Score (von Henry Kaiser) selbst.

    Obwohl sich ein landschaftlicher Augenöffner an den nächsten reiht, wird diese Flut noch getoppt, als Herzog zu einem seiner Lieblingsthemen auf ungewöhnliche Weise Bezug nimmt. Der Wahnsinn im menschlichen Geiste, dem der Starfilmer zeitlebens auf der Spur ist, sucht dieser jetzt an unvermuteter Stelle. Nachdem der renommierte Pinguinverhaltensforscher David Ainley Herzog nicht bestätigen konnte, dass es tatsächlich schwule Pinguine gibt (mehr als ein flotter Dreier sei nicht drin, wohl aber Prostitution), trifft er mit seiner zweiten These den filmischen Jackpot. In einer denkwürdigen Sequenz fragt Herzog, ob der Experten-Ikone bekannt sei, dass es auch unter den Pinguinen in dieser Einöde Exemplare gebe, die dem Wahnsinn verfallen seien – was Ainley irritiert. Doch dann fängt Herzog diesen einen Moment ein: Zwei Pinguine haben sich gelöst. Der eine schlägt zunächst den entgegengesetzten Weg der großen Gruppe ein, der andere schaut. Schaut nach rechts zum Abtrünnigen, nach links zur Kolonie. Er überlegt für den Bruchteil einer Sekunde. Und macht auf dem Absatz kehrt, um die Reise in die unendliche Weite und den sicheren Tod anzutreten. Er marschiert Dutzende von Kilometern, ist von keinem aufzuhalten – wie vom Wahnsinn befallen. Das ist ebenso berührend wie traurig zugleich und brennt sich tief ins Gedächtnis ein.

    Fazit: „Encounters At The End Of The World“ ist klassischer Werner Herzog in Bestform – unverzichtbar für seine Fangemeinde und Freude von skurrilen wie intelligenten Einblicken in das Leben abseits des Lebens. Nur in Begleitung von seinem Kameramann Peter Zeitlinger (Invincible, Mein liebster Feind) geht Herzog seinem Drang nach Freiheit und Entdeckertum im hintersten Winkel dieses Planeten nach und kreiert für 99 Minuten eine Welt innerhalb der Welt - und doch außerhalb. Aber was kann danach noch kommen? Die letzte Barriere - the final frontier? Der Weltraum?!

    [1] Herzog drehte in:

    Nordamerika: Grizzly Man, Stroszek, The Wild Blue Yonder u.a.

    Südamerika: Aguire – Der Zorn Gottes, Fitzcarraldo, Schrei aus Stein u.a.

    Europa:Woyzeck, Nosferatu - Das Phantom der Nacht u.a.

    Asien: Rescue Dawn, Rad der Zeit u.a.

    Afrika: Cobra Verde, „Die fliegenden Ärzte von Ostafrika u.a.

    Australien: „Wo die grünen Ameisen träumen“

    Antarktis: „Encounters At The End Of The World“

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