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    The Deep Blue Sea
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Deep Blue Sea
    Von Michael Kohler

    Selbst im Feld der Autorenfilmer zählt der britische Regisseur Terence Davies („Haus Bellomont") zu den legendären Sturköpfen. Komme was da wolle, er bleibt seinem unverwechselbaren Stil treu und Produzenten gegenüber unerbittlich – ein Grund, warum er seit 1976 lediglich drei Kurzfilme und sechs abendfüllende Spielfilme drehen konnte. Davies gibt sich und dem Publikum gerne Zeit, in seine Geschichten einzutauchen, und lässt die Kamera immer wieder wie einen gemächlichen Geist durch die nostalgischen Kulissen bedrückender Familien- oder Ehedramen fahren. Unter Filmliebhabern wurde er vor allem mit zwei aufeinander folgenden Arbeiten berühmt: „Distant Voices, Still Lives" (1988) und „The Long Day Closes" (1992). Beide sind autobiografisch gefärbt und führen in Davies‘ Kindheit im Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Auch in seinem neuen Melodram „The Deep Blue Sea" lässt er die Stimmung und das englische Milieu dieser Umbruchszeitzeit kunstvoll auferstehen. Zur Heldin hat er sich dieses Mal eine Frau gewählt, die ihren wohlhabenden Ehemann aus Liebe zu einem mittellosen Ex-Soldaten verlässt.

    Hester Collyer (Rachel Weisz) will ihrem Leben ein Ende setzen. Sie dreht in ihrer ärmlichen Wohnung den Gashahn auf und wird allein durch die Wachsamkeit ihrer Vermieterin gerettet. Wie sich bald herausstellt, hat ihr Freund Freddie (Tom Hiddleston) ihren Geburtstag vergessen, was ihr als endgültiger Beweis dafür erscheint, dass er sie nicht so liebt wie sie ihn. Als der ahnungslose Freddie von einer Golfpartie heimkehrt und den an ihn adressierten Abschiedsbrief findet, ist er zu Tode gekränkt und stürzt in die nächste Kneipe. Auch Hesters Ehemann Sir William Collyer (Simon Russell Beale) hat vom Selbstmordversuch erfahren und sucht sie auf, um sie zurück nach Haus zu holen. Im Laufe der Nacht kommt es zu einer kurzen Begegnung zwischen den beiden Männern und am nächsten Morgen sitzt Hester erneut in trüben Gedanken verloren am Gasofen.

    Bereits die ersten Einstellungen von „The Deep Blue Sea" lassen allen Terence-Davies-Fans das Herz aufgehen: Begleitet von den aufwühlenden Klängen von Samuel Barbers Konzert für Violine und Orchester fährt die Kamera langsam auf eine im Abendlicht liegende Hausfassade zu, schlüpft durch das Fenster ins Innere und nähert sich der im Halbdunkel bleibenden Hester. Während sie in ihre Ohnmacht sinkt, gleitet die Kamera in einer gleichmäßig fließenden Bewegung in die Vergangenheit und führt die entscheidenden Motive des Liebesdramas ein: Hesters unerfüllte Ehe mit dem deutliche älteren Sir William und die leidenschaftliche Begegnung mit Freddie. Als die Unglückliche aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen wird, sind wir über alles im Bilde, ohne dass viel gesprochen worden wäre. Ähnlich wie beim griechischen Regisseur Theo Angelopoulos („Landschaft im Nebel") gehören solche langen Kameraeinstellungen zu Davies‘ Markenzeichen. Sie verweben die Erinnerungen mit der Gegenwart und hauchen dem wie auf einer Bühne arrangierten Geschehen filmisches Leben ein.

    Mit „The Deep Blue Sea" hat Terence Davies das gleichnamige Theaterstück des britisches Dramatikers Terence Rattigan („The Winslow Boy") von 1952 verfilmt. Er behält den Charakter der Vorlage bei und reduziert die Handlung im Wesentlichen auf eine Handvoll Schauplätze und die drei Hauptpersonen. In den Dialogpassagen saugt sich die Kamera immer wieder an den Gesichtern fest und registriert jede Regung. Das ist oft faszinierend und in den Szenen, die Hesters früheren Ehealltag zeigen, fühlen wir geradezu, wie sich die Uhr beim quälenden Nachmittagstee rückwärts dreht. Man sieht in jeder Einstellung, dass Davies eine schon tausendmal erzählte Geschichte ganz anders inszenieren will – der Vergleich mit Anatole Litvaks 1955er Hollywood-Verfilmung („Lockende Tiefe") des Dramas mit Vivien Leigh in der Hauptrolle spricht Bände. Nur manchmal wirkt dieses Bemühen etwas angestrengt. So ist Davies‘ neuer Film vor allem ein interessantes Experiment: Der Regisseur macht aus der Leinwand eine Bühne, um die Geschichte einer leidenschaftliche Liebe nicht als großes Kinomelodram, sondern im gedämpften Tonfall eines Kammerspiels zu erzählen.

    Fazit: Der britische Autorenfilmer Terence Davies erzählt ein Ehe- und Liebesdrama aus den 1950er Jahren mit theaterhaften Bühnenbildern und langen Einstellungen, die Gegenwart und Erinnerungen elegant verbinden. „The Deep Blue Sea" ist ein Kunstfilm, der gelegentlich anstrengend, aber immer faszinierend ist.

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