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    Die Nacht der Giraffe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Nacht der Giraffe
    Von Robert Cherkowski

    Was denkt ein Gorilla, wenn er Tag für Tag durch die massiven Gitterstäbe seines Zoo-Geheges begafft wird? „Tut mir leid, Leute, aber ich kann euch nicht rauslassen." Der kleine Witz, der die Begegnung von Tier und Mensch karikiert und den Mikrokosmos Zoo als Ort wahrer Freiheit ausmacht, kommt einem beim indonesischen Filmmärchen „Die Nacht der Giraffe" des Öfteren in den Sinn. Während die Menschen über die artenreiche Vielfalt des Lebens staunen, müssen sie für tierische Augen wiederum ebenfalls ein interessanter und äußerst seltsamer Anblick sein. Mit seinem herrlich versponnenen und gelegentlich sogar hypnotischen Zweitwerk wirft Jungregisseur Edwin einen entspannten Filmblick auf unsere Spezies, die sich wohl selbst auf ewig ein Rätsel bleiben wird.

    Als Kind wurde Lana (Ladya Cheryl) von ihrem Vater in einem Zoo ausgesetzt. Aufgezogen von Tierpflegern und umgeben von Tigern, Giraffen, Nilpferden und Pfauen wurde der Zoo zu ihrer Welt und die Besuchermengen, die täglich durch ihr Domizil pilgern, zum eigentlichen Mysterium. Als sie eines Tages einem Magier in Cowboy-Gewandung (Nicholas Saputra) begegnet, erweitert sich ihr Horizont. Der Cowboy nimmt sie mit auf Streifzüge in die nahe gelegene Stadt, begeistert sie mit seiner Magie und weckt in ihr die Sehnsucht nach der großen weiten Welt. Als er sie in die Unterwelt geleitet und mit einem Massage-Salon-Betreiber bekanntmacht, ergreift Lana ohne zu zögern die Gelegenheit, als Masseuse/Prostituierte anzuheuern...

    Mit Lanas Berufswahl wird die Geschichte nicht etwa zum düsteren Drama über Menschenhandel. Vielmehr sieht sie ihren neuen Job als Ausweg aus ihrer zu klein gewordenen Zoo-Welt. Zu Beginn wirkt das wie eine Spielfilm-Neuinterpretation des süßen Weezer-Videos „Island in the Sun" von Spike Jonze. Putzige Tiere wohin man auch blickt erfreuen das Herz - und doch trügt der Schein. Dieser Babytiger mag possierlich sein, doch auch er wird zu einem gefährlichen Raubtier heranwachsen. Die Giraffe mag – wie Lana – eine bezaubernde, leicht entrückte Würde und Schönheit ausstrahlen und – anders als Lana – in der Lage sein, sich selbst mit der Zunge die Ohren zu reinigen. Einer ihrer Hufschläge jedoch kann einen ausgewachsenen Löwen töten.

    In der Gefahr liegt hier die Schönheit und in der Schönheit die Gefahr. So gerne die Kamera auf den Tieren verharrt, so klar ist dabei auch: Die eigentümlichen Vertreter der Gattung Mensch sind keinen Deut leichter zu durchschauen. Vielmehr steht ihr irrationales Handeln der Wildheit der tierischen Zoobewohner in nichts nach. Wie seine animalischen Gefährten ist auch das Findelkind Lana mit der großen, weiten und gefährlichen Welt nicht vertraut. Als sie diese Welt durch ihre Bekanntschaft mit dem Cowboy schließlich zu entdecken beginnt, wirkt ihr vermeintlich so freiheitlicher Mikrokosmos zunehmend wie ein Gefängnis. Auch wenn man ihre Entwicklung als düsteren Niedergang interpretieren könnte, bleibt Edwins Erzählstil märchenhaft, manchmal nahezu surreal.

    In seiner versponnen-faszinierenden Atmosphäre erinnert „Die Nacht der Giraffe" gelegentlich an Apichatpong Weerasethakuls faszinierend-elegische Gespenstergeschichte „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben". Hier wie dort entfaltet sich ein Hauch Magie in einer verträumten, überhöhten Scheinrealität. Nie wird danach gefragt, was es mit dem seltsamen Cowboy-Magier und seinen Kräften auf sich hat. Leerstellen wie diese würden im traditionellen Erzählkino für Verwirrung und vielleicht sogar Verstimmung sorgen. Da Edwins psychedelischer Zoobesuch jedoch vielmehr der Logik des Traums folgt, dürfen sich alle geneigten Zuschauer guten Gewissens auf Lanas Seite schlagen und sich einfach fallenlassen.

    Das gilt auch dann noch, wenn die Protagonistin im Schlussdrittel ganz zwanglos beschließt, in einem Massage-Bordell anzuheuern – derartige Figurenentwicklungen passieren hier einfach, ohne dass sich Edwin lange mit Erläuterungen aufhalten würde. „Die Nacht der Giraffe" gleicht einem selig-schlaftrunkenen Spaziergang durch eine von milchigem Morgentau überzogene Landschaft. Hypnotisch schön schwebt er dahin – und der Regisseur beweist, dass es im Kino auch wunderbar ohne erzählerische Stringenz und unmittelbare Nachvollziehbarkeit geht. Zumindest, wenn man dabei mit so offenem Herzen und fasziniertem Blick für die Magie der tierischen und menschlichen Natur arbeitet, wie Edwin es hier vormacht.

    Fazit: Mit „Die Nacht der Giraffe" ist Edwin ein geheimnisvolles Kleinod gelungen, das sanft in seinen Bann zieht.

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