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    Alphabet
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Alphabet
    Von Gregor Torinus

    Der Österreicher Erwin Wagenhofer ist durch seine gesellschaftskritischen Dokumentarfilme bekannt geworden, in denen er grassierende Missstände thematisiert. In seinem Film „We Feed the World – Essen Global“ zeigt er die oftmals absurden Exzesse einer globalisierten Nahrungsmittelindustrie, in „Let's Make Money“ seziert er den neoliberalen Raubtierkapitalismus. In seiner „Alphabet“ betitelten Dokumentation beschäftigt sich der Regisseur nun mit den Folgen eines weltweit zunehmend standardisierten und alleine auf Effizienz ausgerichteten Bildungssystems. Als Ausgangspunkt nimmt Wagenhofer die Frage, was die Ursache der in seinen vorherigen Dokumentationen gezeigten Fehlentwicklungen ist. Seine zum Teil hochinteressanten Erkenntnisse münden in der polemisch überspitzten Aussage: „98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%.“

    Die Grundthese von „Alphabet“ besteht darin, dass die (Schul-)Bildung in den westlichen Industrienationen, aber auch in aufstrebenden Nationen wie China auf die Schaffung konformer Arbeitsbienen abzielt und hierbei die ursprüngliche kindliche Kreativität verloren geht. Anstatt die persönliche Selbstentfaltung freier Individuen zu fördern, ist das Ziel zunehmend, die Menschen für die Erfordernisse der Wirtschaft fit zu machen. Dies führt zu einem immer gnadenloser werdenden Drill. So führt China inzwischen in sämtlichen Bereichen der Pisa-Studie die Statistiken an und hat gleichzeitig die weltweit höchsten Selbstmordquoten unter Schülern. Als ein abschreckendes Beispiel für eine alleine auf Konkurrenzdenken und Gewinnmaximierung basierte Gesellschaft werden die Kandidaten des „CEO of the Future“-Wettbewerbes des McKinsey-Instituts präsentiert. Diese sehen die alleinige Aufgabe für den Manager der Zukunft in der Effizienzsteigerung. Eine Schwangerschaft ist in ihren Augen hingegen nur ein gegebenenfalls strategisch zu planendes potentielles Karriererisiko.

    Im Kontrast dazu beschreibt der deutsche Hirnforscher Gerald Hüthner wie ein Zustand der permanenten Angst die Entfaltung der geistigen Leistungsfähigkeit lähmt. Im Extremfall schaltet das Hirn unter Angst nur noch auf die grundlegendsten Impulse wie Angriff oder Flucht. Rationales Denken, geschweige denn eine kreative Suche nach neuen Lösungen ist in solch einem Zustand unmöglich. Ein Gegenmodell zu einer auf Angst basierten Erziehung zeigt der in Kassel geborene und in Paris tätige Kunstpädagoge Arno Stern. In dem von ihm entwickelten „Malort“ entdecken Menschen unterschiedlichsten Alters die Freude an einem vollkommen ungezwungenen, schöpferischen Tun, das frei von Nützlichkeits- und Konkurrenzdenken ist. Arno Stern zufolge müssten die jetzigen Nebenfächer in der Schule eigentlich die Hauptfächer sein. Wenn die Kinder einfach nur die ganze Zeit malen, musizieren und tanzen würden, ergäbe sich der gesamte Rest wie von selbst. Sein eigener Sohn André Stern scheint diese Thesen mit seinem eigenen Leben zu beweisen. André hatte nie eine Schule besucht, doch heute ist er Musiker, Komponist, Gitarrenbauer, Journalist, Autor und spricht mehrere Fremdsprachen.

    Die Kernthese „98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%.“ ist natürlich per se falsch, weil „hochbegabt“ immer bedeutet, dass man sich aus der Masse abhebt (die oberen 2 %, nicht die oberen 98%) und eine Begabung kann natürlich nicht durch Bildung entstehen oder versiegen, sie kann nur gefördert oder eben nicht gefördert werden. Das Zitat ist in seinem ursprünglichen Kontext jedoch trotzdem nicht unsinnig, sondern nur sehr provokant formuliert. Der Bildungsexperte Sir Ken Robinson berichtet in „Alphabet“ über eine Studie zum „unangepasstem Denken“ („Divergent Thinking“). Hierbei wurde ein von 98% Prozent aller 3-5-jährigen erreichtes Niveau willkürlich als „genial“ festgelegt. Diese Fähigkeit des „Um die Ecke denken“ wurde mit zunehmenden Alter von immer weniger Testteilnehmern erreicht, bis es bei einer Vergleichsgruppe von mindestens 25-jährigen nur noch von 2% erreicht wurde. Mit zunehmendem Alter fallen den Menschen in unserer Gesellschaft also immer weniger mögliche Lösungen zu einem konkreten Problem ein. Dies ist laut Sir Ken Robinson eine Folge eines mechanischen Denkens, das auf der Grundannahme basiert, dass es zu jeder Frage nur genau eine richtige Antwort gibt. Solch ein starres Denken ist der Feind jedweder Kreativität. Der ehemalige Topmanager Thomas Sattelberger sieht in diesem Denken ein unzeitgemäßes Relikt aus der Epoche der frühen Industrialisierung, das für die mangelnde Flexibilität und Wandlungsfähigkeit vieler Unternehmen verantwortlich ist.

    Dass unsere heutige Gesellschaft jeden, der vom Standard abweicht, am liebsten sofort ausgrenzt, weiß Pablo Pineda Ferrer aus eigener Erfahrung. Der Spanier ist der erste Europäer mit Down-Syndrom, der einen Universitätsabschluss geschafft hat. Heute arbeitet er als Lehrer in einer Schule in Córdoba. Seine beeindruckende Entwicklung wurde dadurch möglich, dass in Spanien 1986 die Sonderschulen abgeschafft wurden und seither 85% der Kinder mit Down-Syndrom eine reguläre Schule besuchen. Pablo Pineda Ferrer sagt von sich selbst, dass er ein wahrer Glückspilz sei, da er immer stark gefördert worden ist, aber zugleich bis heute gegen all jene kämpfen muss, die jemanden wie ihm solch einen Erfolg nicht gönnen. Somit bleibt Erwin Wagenhofer in „Alphabet“ zwar - wie zu erwarten war - den Nachweis schuldig, dass prinzipiell 98% aller Menschen hochbegabt sind. Dafür liefert er jedoch ermutigende Beispiele dafür, wie die verschiedenen vorhandenen Begabungen von Kindern durch eine auf den individuellen Menschen eingehende Erziehung auf eine erstaunliche Weise und dazu mit viel Freude entfaltet werden könnten.

    Fazit: Erwin Wagenhofers zeigt mit seinem neuen Dokumentarfilm „Alphabet“, dass unsere Gesellschaft zu sehr auf standardisierte und somit messbare Fähigkeiten setzt. Dem setzt der Filmemacher auf überzeugende Weise Beispiele für eine Erziehung entgegen, welche die freie Entfaltung des Individuums zum Ziel haben, die in ihrem Zusammenspiel eine kreative Gesellschaft erst ermöglichen.

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