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    German Angst
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    German Angst
    Von Christoph Petersen

    Im ersten Anlauf ist das Genre-Label Pierrot Le Fou gerade bei dem Versuch gescheitert, für seine Berlin-Horror-Anthologie „German Angst“ eine Freigabe ab 18 Jahren zu erhalten (wer auf Nummer sicher gehen will, schaut sie sich also am besten bei den Fantasy Filmfest Nights ungeschnitten an). Und wir wagen mal die vorsichtige Prognose: Das wird auch in der Berufung nichts mit dem FSK-Siegel. Alle drei mittellangen Filme von den deutschen Horror-Auteurs Jörg Buttgereit („Nekromantik“), Andreas Marschall („Tears of Kali“) und Michal Kosakowski („Zero Killed“) sind einfach dermaßen extrem (thematisch, psychologisch und in der expliziten Gewaltdarstellung), dass die Jugendschützer hier auch im zweiten Anlauf kaum ein Auge zudrücken dürften. Dabei wäre das durchaus begrüßenswert – denn „German Angst“ ist trotz eines beachtlichen Gore-Anteils alles andere als dummdreistes Gemetzel, sondern zumindest in zwei Beiträgen ein radikal-brutaler Angriff auf die deutsche Volksseele. Zum Glück läuft der erträglichste der drei Filme, „Alraune“, als letztes, denn nach „Final Girl“ und „Make a Wish“ hatten wir eigentlich schon den festen Entschluss gefasst, nach dem Abspann unsere Personalausweise zurückzugeben und uns dann direkt von der Oberbaumbrücke zu stürzen.

    „Final Girl“: Eigentlich eine Bezeichnung für die letzte Überlebende in einem Slasher-Film à la „Scream“, hat das titelgebende Final Girl (Lola Gave) hier eine andere Art von Tortur überstanden. Während der Moderator im Radio von einem muslimischen Mann erzählt, der seine Frau brutal niedergemetzelt hat, begibt sich das Mädchen mit einer Gartenschere ins Schlafzimmer ihres Vaters (Axel Holst)… Jörg Buttgereits Missbrauchshorror ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur ist er extrem atmosphärisch inszeniert, auch psychologisch ist er viel präziser als die meisten anderen Rachefilme und sollte abseits des Gartenscheren-Genital-Gemetzels auch als Drama zu dem Thema unbedingt ernstgenommen werden. Hier ist selbst der gefesselt und geknebelt in seinem Bett liegende Vater eine interessante Figur, denn entgegen der Erwartungshaltung des Publikums lässt er die blutige Rache seiner Tochter ohne Gegenwehr über sich ergehen, um ihr so vielleicht doch noch eine Chance auf ein neues Leben zu ermöglichen. Und wenn das Mädchen schließlich aus dem Off erzählt, dass Meerschweinchen es gar nicht mögen, wenn wir mit ihnen kuscheln, aber die Menschen einfach ihre Signale nicht verstehen, weshalb die Tierchen sich ab einem gewissen Punkt alles gefallen lassen, bleibt auch in der Seele des Zuschauers nur noch ein einziges Trümmerfeld zurück. (4 von 5 Sternen)

    „Make a Wish“: Der taubstumme Jacek (Matthan Harris) erzählt seiner ebenfalls taubstummen Freundin Kasia (Annika Strauss) in einer leerstehenden Fabrik die Geschichte seines Talismans: 1943 hat ein polnisches Mädchen ihn bei einem Überfall der Nazis auf ihr Dorf benutzt, um einen Bauern und einen SS-Offizier die Körper tauschen zu lassen. Als dann der Skinhead Gottfried (Daniel Faust) und seine Kumpane auftauchen und das Paar brutal zusammenschlagen, will auch Kasia den Glücksbringer zur Hilfe einsetzen: Diesmal sollen Jacek und Gottfried die Körper tauschen… In dieser Episode verarbeitet der früh aus Polen nach Österreich gezogene Filmemacher Michal Kosakowski ein persönliches Kindheitstrauma – und die tief in ihm steckende Angst und Abscheu spürt auch der Zuschauer sofort: Während die Gewalt in der Nazi-Rückblende wie in so vielen Splatterfilmen fantastisch-überhöht anmutet, fühlt sich die brutale Eskalation in der Filmgegenwart unfassbar real an. Kürzlich bei „Wir sind jung. Wir sind stark.“ war im Vergleich noch die Handbremse angezogen, aber Kosakowski hat nun alle Fesseln gelöst: Noch nie hat uns ein Film dermaßen wütend auf Ausländerfeindlichkeit gemacht wie „Make a Wish“ - und die alle Hoffnung vernichtende Schlusswendung zieht dem Publikum dann endgültig den Boden unter den Füßen weg. Grandios radikal. (4,5 von 5 Sternen)

    „Alraune“: Der erfolgreiche Berliner Fotograf Eden (Milton Welsh) lernt in einem Club die verführerische Kira (Kristina Kostiv) kennen und folgt ihr bis zu einer Tür, an der er von dem mysteriösen Petrus (Rüdiger Kohlbrodt) aufgehalten wird: Eden dürfe zwar gerne reinkommen, aber dafür müsse er erst einmal (lebenslanges!) Mitglied ihrer Gesellschaft werden… Milton Welsh („Grand Budapest Hotel“) ist großartig als getrieben-verschwitzter Fotograf, der mit der absoluten sexuellen Befriedigung auch die ultimative Sucht für sich entdeckt. Zudem ist Regisseur Andreas Marschall mit seiner gotischen Sage eine würdige Huldigung an die expressionistischen Kindertage des deutschen Horrorkinos in den 1910er und 20er Jahren gelungen. Als Teil der amerikanischen Anthologie-Konkurrenz wie „V/H/S“ oder „ABCs of Death 2“ wäre „Alraune“ sicher eines der Highlights und es spricht für die herausragende Qualität von „German Angst“, dass er hier im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern sogar ein wenig abfällt. (3,5 von 5 Sternen)

    Fazit: „German Angst“ tut beim Anschauen richtig, richtig weh – und genau das zeichnet ihn aus. Die Macher haben tatsächlich etwas zu sagen und nachdem sie uns einen ungebremsten Schlag in die Magengrube verpasst haben, bekommen sie auch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.

    Nachträgliche Anmerkung zur deutschen Altersfreigabe: Entgegen unserer Vermutung sind die Jugendschützer doch noch zur Vernunft gekommen und haben „German Angst“ im zweiten Anlauf eine Freigabe ab 18 Jahren erteilt. Gerade bei den Themen Missbrauch und Fremdenhass sollte Gewalt unserer Ansicht nach auch richtig wehtun dürfen, denn sie weichzuwaschen wäre ein viel fataleres Signal. Damit wird der Film wie geplant ab dem 15. Mai 2015 ungeschnitten (!) im deutschen Handel erhältlich sein.

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