Mein Konto
    High-Rise
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    High-Rise
    Von Carsten Baumgardt

    Das Werk des 2009 verstorbenen Kultautors James G. Ballard gilt als ebenso eigenwillig wie vielseitig und schwer verfilmbar. Während es David Cronenberg mit seiner Auto-Fetisch-Studie „Crash“ (1996) und Steven Spielberg mit dem Weltkriegsdrama „Das Reich der Sonne“ (1987) gelungen ist, ihre Vorlagen in  beeindruckende und eigenständige Kinoperlen zu verwandeln, wurde die Verfilmung von Ballards Magnum opus „High Rise“ (deutsche Titel: „Block“ oder „Hochhaus“) zur unendlichen Geschichte. Obwohl Produzent Jeremy Thomas („Der letzte Kaiser“) die Filmrechte bereits 1975 zur Erstveröffentlichung der dystopischen Klassenkampf-Arie erwarb, sollte es 40 Jahre dauern, bis das Projekt tatsächlich auf die große Leinwand kommt. Nach mehreren vergeblichen Anläufen im Lauf der Jahrzehnte – unter anderem mit Nicolas Roeg („Wenn die Gondeln Trauer tragen“) und Vincenzo Natali („Cube“) - arbeitet sich nun der kompromisslose britische Indie-Filmemacher Ben Wheatley („Kill List“, „A Field In England“) an „High Rise“ ab: Er kreiert brillante Szenen in einer phantastischen, morbiden Atmosphäre und doch läuft ihm die schwarzhumorige Gesellschaftssatire nach und nach aus dem Ruder – analog zu seinem Thema ist „High-Rise“ erzählerisch pure Anarchie. Ein verrückter Film!

    London, 1975: Der begehrte Junggeselle Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) sucht einen Neuanfang und mietet sich in dem futuristischsten Gebäude der Stadt ein: ein ultramodernes Hochhaus mit einer eigenen autarken Infrastruktur, die das Verlassen des High-Tech-Resorts so gut wie überflüssig macht. Der Neurologe wohnt im 25. Stock – und damit genau zwischen den Fronten, wie sich herausstellt. Im majestätischen Penthouse mit seinem paradiesischen Dachgarten logieren der visionäre Schöpfer Anthony Royal (Jeremy Irons) und seine Frau Ann (Keely Hawes), weiter unten im Haus haben die weniger begüterten Mieter ihre Wohnungen, darunter der latent unzufriedene Dokumentarfilmer Wilder (Luke Evans) mit seiner hochschwangeren Frau Helen (Elizabeth Moss). Verschiedene Cliquen treffen sich auf ausschweifenden Partys mit Alkohol, Drogen und Sex. Laing beginnt eine Affäre mit der alleinstehenden Mutter Charlotte (Sienna Miller), die auch ein Kind mit Architekt Royal hat. Es rumort in den luxuriösen Eingeweiden des Gebäudes – die Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Kasten nehmen zu und eine gewaltige Konfrontation zieht herauf …

    Ähnlich wie Bong Joon-ho in seinem Science-Fiction-Drama „Snowpiercer“, in dem ein streng nach gesellschaftlichen Klassen unterteilter Zug unaufhörlich durch eine apokalyptische Schneewüsten-Zukunft rast, nutzt auch Ben Wheatley für seine Inszenierung des Klassenkampfs in „High-Rise“ die Enge des begrenzten Raums: Nahezu alle Szenen des Films, der vor seinem regulären Kinostart in Deutschland auch bei den Fantasy Filmfest Nights 2016 zu sehen ist, sind in dem futuristisch-sterilen High-Tech-Hochhaus angesiedelt, das mit seiner Struktur und seiner multifunktionalen Ausstattung eine Welt für sich darstellt. Es gibt ganze Etagen für Supermärkte, einen riesigen Wellness-Bereich inklusive großem Swimmingpool, im Penthouse-Garten reitet Herrscher-Gattin Ann mit ihren Pferden in purer Dekadenz über die malerische, gigantische Dachterrasse. Der Luxus ist allerdings ungleich verteilt: Die Wohnungsbelegung spiegelt die Bevölkerungsstruktur in der Gesellschaft wider, Wheatley und seine Stammdrehbuchautorin (und Ehefrau) Amy Jump beschwören die uralten Instinkte - das Fußvolk drängt nach oben, die hedonistische Oberschicht tritt nach unten, um Besitzstände zu wahren: Soziale Ungerechtigkeit führt in der erzählerischen Logik von Roman und Film unweigerlich zu Aufruhr, Gewaltexzessen und Chaos.

    Regisseur Ben Wheatley und Kamerafrau Laurie Rose („Kill List“) entfesseln einen brillant-düsteren Bilderrausch, der durch den suggestiv-treibenden Score von Clint Mansell („Requiem For A Dream“) kongenial verstärkt wird. Die Original-Kompositionen ergänzt er durch perfekt gewählte andere Stücke (stark: Portisheads Coverversion des Abba-Superhits „SOS“, den Mansell zudem orchestral variiert): Der Soundtrack ist genauso wild wie der ganze Film. Der in Bild und Ton heraufbeschworene Trancezustand legt sich dabei gleichsam über die filmische Erzählung. Wheatley lässt sich von Nebenfigur zu Nebenfigur, von Szene zu Szene treiben und verirrt sich dabei manchmal ein bisschen. Er beobachtet den Mikrokosmos am Rand des Abgrunds wie ein zufälliger Zaungast und ohne großes Mitgefühl. Identifikationsfiguren gibt es entsprechend keine und auch von einer Dramaturgie im klassischen Sinne lassen sich nur Spurenelemente finden. „High-Rise“ ist ein Film der Stimmungen und der Momente, der sich am besten als anarchisch-exzessive Zustandsbeschreibung genießen lässt: Hier ist die Kacke am Dampfen, aber so richtig. Der Erzählton ist satirisch, absurd, dramatisch, apokalyptisch – eine im besten Sinne schwarze Komödie.

    „High-Rise“ spielt mit seiner Mischung aus 70er-Jahre-Bezügen und futuristischen Elementen gewissermaßen in einem Paralleluniversum, aber gemeint ist natürlich unsere Welt: Der durch ein von den Filmemachern eingestreutes zynisches Zitat von Margaret Thatcher untermauerte gesellschaftskritische Befund des Romans hat auch heute Gültigkeit: Das unter anderem von der „Eisernen Lady“ entfesselte Kapitalismusmonster konnte bisher nicht eingefangen werden und wer seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft setzen möchte, ist in „High-Rise“ falsch. Konsequenterweise bleibt die Menschlichkeit vollkommen auf der Strecke: So ist auch Tom Hiddlestons („Avengers“) suchender Dr. Robert Laing, der noch am ehesten als Hauptfigur durchgehen würde, ein eiskalter Fisch – allerdings einer mit vielen stark gespielten Facetten. Und der von Luke Evans („Dracula Untold“) mit viel Energie verkörperte Wilder ist zwar die Triebfeder der Revolution, wird aber nicht von Idealen angespornt, sondern einzig durch die fehlende persönliche Perspektive. Jeremy Irons‘ („Stirb langsam 3“) charismatisch-unsensibles Architekten-Mastermind Royal wiederum unterschätzt die Gesamtsituation kolossal, während Sienna Miller („Foxcatcher“) und Elizabeth Moss („Mad Men“) in ihren Rollen vergeblich weibliche Selbstbestimmung beanspruchen und im Schlagschatten der Revolte aufgerieben werden.

    Fazit: „High-Rise“ ist ein wild-ambitionierter Style-Over-Substance-Ritt durch eine dystopische Parallelwelt, bei dem Regisseur Ben Wheatley gelegentlich aus dem Sattel fliegt. Ein unrunder, provokanter, oft surreal wirkender Film!

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top