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    Tangerine L.A.
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tangerine L.A.
    Von Niklas Pollmann

    Ein handwerkliches Gimmick kann einem Film zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen, ihm zugleich aber auch den Vorwurf eines effekthascherischen Manierismus einbringen – zuletzt waren etwa die One-Take-WonderVictoria“ von Sebastian Schipper (ganz ohne Schnitte) und „Birdman“ von Alejandro González Iñárritu (ohne sichtbare Schnitte) solche Fälle. Ist es also vor allem Prahlerei, wenn Sean Baker („Starlet“) nun einen Film komplett mit einem iPhone dreht? Ist das noch Kunst oder schon das kommerzielle Kalkül eines Indie-Regisseurs? Ein paar Marketing-Hintergedanken gab es zweifellos, aber vor allem ist Bakers vielfach preisgekrönter „Tangerine L.A.“ eine der schrägsten, bissigsten und temporeichsten Komödien des Kinojahres.

    Als die afroamerikanischen Transgender-Prostituierte Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt wieder rauskommt, erfährt sie von ihrer besten Freundin Alexandra (Mya Taylor), dass ihr Freund und Zuhälter Chester (James Ransone) sie in der Zwischenzeit mit einer „echten Frau“ betrogen haben soll. Das lässt die selbstbewusste Dame natürlich nicht einfach so auf sich sitzen… Statt Sozialtragik vom Problemkino–Reißbrett zum Transgender-Diskurs beizusteuern, verzichtet Baker auf Überhöhungen und gibt seinen beiden „crazy bitches“ Sin-Dee und Alexandra ihre eigene Stimme: Seine Hauptdarstellerinnen sind tatsächlich transsexuell und ihre Biografien haben Parallelen zum „Tangerine L.A.“-Plot, auch die überdrehte Sprache der Straße samt ihrem speziellen Humor wird von Baker unverfälscht übernommen. Statt sie albern zu überzeichnen, wirken die Figuren immer authentisch und werden selbst in den absurdesten Situationen nicht ihrer Würde beraubt.

    Der amerikanische Traum von Freiheit ist in „Tangerine L.A.“ vor allem ein Traum von sexueller Selbstbestimmung und -verwirklichung. Das zeigt sich nicht nur im Selbstverständnis der Transgender-Protagonistinnen, sondern auf andere Art auch in der Geschichte des armenischen Taxifahrers Razmik (Karren Karagulian), der sich von seiner Migration in die Vereinigten Staaten vor allem die Gelegenheit zum Sex mit transsexuellen Prostituierten versprochen hat: Der verheiratete Mann hintergeht seine Frau und führt ein Doppelleben zwischen seiner geheimen sexuellen Vorliebe und seiner christlich-konservativen Familie, die gerade zum Weihnachtsbesuch vorbeischaut. Dieser explosive Nebenhandlungsstrang gipfelt zwar in der lautesten Konfrontation des Films, aber die wahren Höhepunkte bleiben dennoch die oftmals fiebrig-hektischen, mitunter ganz ruhigen, aber immer zärtlichen Momente, die von der Freundschaft der beiden transsexuellen Protagonistinnen erzählen.

    Sean Baker ist natürlich nicht einfach mit seinem iPhone in der Hand durch die Straßen von Los Angeles gelaufen, sondern hat den kleinen iPhone-Sensor mit professionellem Filmequipment und einer aufwendigen Postproduktion unterstützt. Dieser zusätzliche Produktionsaufwand soll aber keinesfalls verbergen, dass der Film auf einem Smartphone gedreht wurde, stattdessen akzentuiert er die Eigenheiten des iPhones sogar: Mit scharfen Kontrasten, grellen Farben (vor allem das titelgebende Orange) und musikalischer Untermalung im Stile von Musikvideos setzt Baker sein Konzept eines Hosentaschen-Films konsequent um. So zeigt uns „Tangerine L.A.“ letztlich nicht, wie ein durchschnittliches Smartphone-Videos heutzutage aussieht, sondern wie es in Zukunft tatsächlich aussehen könnte: absolut kinoreif!

    Fazit: Hinter dem ersten iPhone-Kinofilm steckt mehr als nur ein Marketing-Gag, nämlich eine fantastisch abgedrehte Queer-Pop-Art-Komödie.

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