Mein Konto
    La Flor
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    La Flor

    Ein Kinoerlebnis wie kein zweites

    Von Lucas Barwenczik

    Das Kino ist keine junge Kunstform mehr. Seit einigen Jahr lebt kein einziger Mensch mehr, der im Jahr seiner Geburt 1895 schon am Leben war. Nach fast 125 Jahren Film ist es nicht immer leicht, noch etwas wirklich Neues und Überraschendes zu zeigen. In den vergangenen Jahren hat man sich dafür vor allem auf technische Entwicklungen verlassen und eigentlich längst vertraute Bilder einfach nur in höherer Auflösung oder in 3D präsentiert. Doch mit dem 14-Stunden-Epos „La Flor“ haben der argentinische Regisseur Mariano Llinás und das Kollektiv El Pampero Cine einen Film geschaffen, der sich wirklich neu anfühlt. Ein filmisches Versuchslabor, in dem alles möglich scheint. Ein wildes Spiel mit Figuren, Genres, Bildern und Darstellern. Ein Ereignis!

    „La Flor“ erzählt nicht eine, sondern viele verschiedene Geschichten – und zwar immer wieder mit denselben vier Schauspielerinnen. Am Anfang tritt der Regisseur vor die Kamera und erklärt die Struktur des Films. Es gibt sechs Episoden, die auf ein Blatt Papier gezeichnet gemeinsam die Blume des Titels ergeben. Die Blüten sind die ersten vier Episoden, die einen Anfang, aber kein Ende haben. Nummer 5, die Knospe, hat Anfang und Ende. Der abschließende Stängel ist ein einziges langes Ende. Episode 1 ist ein B-Film wie aus den Zeiten von Roger Corman. Die zweite zeigt ein Beziehungs-Musical, die dritte und mit Abstand längste (fast sechs Stunden) einen Agenten-Thriller. Teil 4 beginnt als Reflexion über das Filmemachen, Teil 5 ist ein Remake von Jean Renoirs mittelangem Film „Eine Landpartie“ aus dem Jahr 1936. Am Ende steht ein schwermütiges Pionierdrama, ein langer und rührender Abschied …

    Trotz 14 Stunden kein Slow Cinema, sondern ein alles auf den Kopf stellendes Meta-Genre-Vergnügen.

    Vornweg, weil es für eine bestimmte Art von Kunst- und Festivalkino bei weitem keine Selbstverständlichkeit ist: Es macht tatsächlich einen riesigen Spaß, sich „La Flor“ anzusehen! Der Film ist witzig und gewitzt, abwechslungsreich und rasant. Obwohl die Struktur so offen ausgestellt wird, wirkt er nie starr und mechanisch. Es gibt Regeln, eine innere Logik, aber diese legen nie Eisenketten an die Figuren und Geschichten. Die Kapitel, die mit einem Genre arbeiten, funktionieren auch als Vertreter davon. Mariano Llinás und sein Team lieben ganz offensichtlich all das, was sie parodieren, referenzieren, dekonstruieren und weiterspinnen. Es gibt keinen Gestus des großen Künstlers, der diese naiven Spielarten der Unterhaltung aufwerten muss. Horror, Fantasy und Agententhriller sind nicht einfach Ersatzteillager, an denen man sich bedient. Ein Teil des Gerüsts bleibt immer erhalten.

    Tatsächlich beginnt der Film dann auch direkt mit der Aufnahme eines Gerüsts: Eine frühere Werbetafel, die jetzt für das solide Skelett eines sich stetig verwandelndes Kinoexperiments steht. Llinás weiß, wie man eine Suspense-Szene inszeniert. Die Musicalszenen sind mitreißend, der immer präsente Humor erinnert ein wenig an Mel Brooks („Frühling für Hitler“, „Der wilde wilde Westen“) oder das Team Zucker-Abrahams-Zucker („Die nackte Kanone“). Wo eine Superagentin mit einem Karate-Tritt in zwei verschiedene Richtungen drei Gegner treffen kann, die sich das auch nicht so ganz erklären können, da ist man an der richtigen Adresse.

    Zum Auftakt eine Mumie

    Die einführende Horror-Episode über den Fluch einer Mumie, der zuerst eine Katze und dann Menschen trifft, versprüht den Charme eines alten Poverty-Row-Films. Die offenen Wüsten- und Graslandschaften erinnern an die Thriller von Edgar G. Ulmer oder Ida Lupino. Besonders eindrucksvoll ist das Sounddesign, das wundervoll rumpelt, knarzt und sich immer wieder fast überschlägt. Die anschließende Musical-Episode erzählt von sterbender Liebe wie in einer Telenovela, ist aber vor allem ein Vehikel, langsam einen Song entstehen zu sehen. Immer andere Versatzstücke, Stimmen und Instrumente kommen hinzu, bis sich schließlich alles in einem großen Gesangs-Duell entlädt. Parallel wird eine kuriose Pulp-Story über ein besonders tödliches Skorpion-Gift erzählt. Eine der Figuren, die nach einem Mittel für das ewige Leben sucht, klagt über die moderne Wissenschaft und die Feigheit, die Experimenten viel zu enge Grenzen setzt. Man kann das auch als Statement zum Kino der Gegenwart verstehen (gegen das „La Flor“ wie einer Art Gegenmittel wirkt).

    Die längste und wohl auch eindrucksvollste Episode ist Nummer 3, eine immer weiter verzweigte Spionage-Geschichte. Der Plot ist (eigentlich) simpel: Einer Gruppe von Agentinnen werden von ihrem ehemaligen Auftraggeber Killer auf den Hals gehetzt. Wer je bei einem Film gedacht hat, man könne über diese oder jene Nebenfigur einen eigenen Film drehen, der wird begeistert sein. Denn genau das passiert: Nahezu jede Vorgeschichte wird ergründet. Sie reichen von Wes-Anderson-artigen Romanzen bis hin zu einer tieftraurigen Geschichte über das Ende der Sowjetunion. „La Flor“ scheint besonders gut dafür geeignet, vom so genannten „Ende der Geschichte“ und den damit verwobenen Ängsten und Sorgen zu berichten. Der Film ist schließlich selbst ein verworrenes, schwer überschaubares System, das klassische Narration und Inszenierung hinter sich lässt.

    Regisseur Mariano Llinás hat mit seinen Darstellerinnen über Jahre hinweg an „La Flor“ gearbeitet.

    Die vierte Episode ist die am schwersten zugängliche: Ein Regisseur streitet mit seinen Darstellern und beginnt, statt ihnen lieber Bäume zu filmen. Eine Meta-Reflexion des Gesamtfilms, in die nach und nach ein Pantheon von Göttern, Hexen und Casanova eindringen. Albert Serra trifft Mario Bava trifft David Lynch. Im Kern fast aller Erzählungen stehen dabei wie gesagt dieselben vier Darstellerinnen: Elisa Carricajo, Valeria CorreaPilar Gamboa und Laura Paredes. Sie bilden das Herz des Films. Jede Geschichte gibt ihnen eine neue Identität: Eine eiskalte Agentin wird zur heißblütigen Sängerin, zur frustrierten Schauspielerin oder zur traumatisierten Pionierin. „Der Film ist von ihnen und für sie“, erklärt der Regisseur in einer seiner Ansprachen. Sie sind nicht einfach Modelle, die man irgendwo vor der Kamera platziert. Keine Schaufensterpuppen oder Crashtest-Dummys, sondern offenkundig Kollaborateure. Gleichberechtigte Partner.

    Sie sind keine Stars, doch man lernt sie kennen wie welche. Als wären sie vertraute Gesichter, die man schon ein Leben lang begleitet. In gewisser Weise ist es sogar wirklich so: Durch die extrem langen Dreharbeiten, über mehr als ein halbes Jahrzehnt hinweg, schreibt sich die Zeit in den Film ein. Ein wenig so, wie es bei Richard Linklaters „Boyhood“ gefeiert wurde. Man sieht die Darstellerinnen altern, man gewöhnt sich an ihre Gestik und Mimik. Man lernt viel über die Art, wie sie spielen. Wie sie ihre Haltung, ihre Sprachkadenzen und Bewegungen verändern, wenn sie ein anderer Mensch werden wollen. Man schließt sie ins Herz wie die Darsteller einer Lieblingsserie – nur das hier eben wirklich die Darstellerinnen und ihr spezifisches Spiel statt nur ihre Rollen im Mittelpunkt stehen.

    Filmemachen als Hexenkunst

    An ihnen wird auch deutlich, dass „La Flor“ offenlegt, was im Kino meist nur mitschwingt. Er verweist über die Grenzen seiner Fiktion und spielt mit der Wirklichkeit. Er ist sein eigenes Making-of, in Teilen auch seine eigene Kritik. Der Filmkritiker Gene Siskel hat einmal gesagt, jeder Film wäre eine Dokumentation seines eigenen Entstehungsprozesses. Die Kamera hält immer die Realitäten einer Zeit fest, selbst wenn er noch so Fantastisches und Abwegiges zeigt. Das wird vor allem im vierten Kapitel deutlich, wo der fiktive Regisseur eines fiktiven Films namens „Die Spinne“ immer größere Probleme mit seinen Darstellerinnen bekommt (die möglicherweise Hexen sind, die ihm nach dem Leben trachten.) „La Flor“ denkt über das Kino nach: Wer filmt was und wieso? Woher kommen die Bilder, wer erschafft sie wirklich? Wie kann eine echte Zusammenarbeit mit den Darstellern gelingen?

    Natürlich erzählt der Film auch von der jahrhundertealten Beziehung zwischen Künstler und Muse. Von Männern, die schauen, und Frauen, die gesehen werden. Vom Voyeurismus. In einer Episode taucht der Verführer Casanova auf, der allerdings immer wieder daran scheitert, vier Frauen, die Objekte seiner Begierde, zu erobern. Mariano Llinás fragt, was ein Regisseur darf, kann und soll. Doch auch wenn er immerzu denkt und reflektiert, gerät der Film nie schwerfällig oder verkopft. Stattdessen wird die schiere Lust am Filmemachen gefeiert.

    Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes stehen eng zusammen.

    Natürlich ist „La Flor“ sehr lang. Kein Text über den Film, der nicht mit seiner Länge von etwa 14 Stunden beginnt (wie lang er genau ist, hängt auch damit zusammen, ob und wie man die fest eingebauten Pausen mitrechnet). Das ist natürlich auch Kalkül: Durch den reinen Umfang sticht ein Film hervor. Es geht eine Pose damit einher: Hier ist ein Produkt, das sich nicht einfach in seine Rolle als Freizeitvertreib fügen will. Es verlangt einen besonderen logistischen Aufwand und eine besondere Aufmerksamkeitsspanne. Doch das Epos ist auf eine andere Weise lang, als es viele der titanischen Produktionen der heutigen Kinolandschaft oft sind.

    Wie FILMSTARTS-Chefkritiker Christoph Petersen schon in seinem „La Flor“-Tagebuch über den Film schrieb, ist es gerade nicht das Zerdehnen des Slow Cinema von Wang Bing oder Lav Diaz. Andererseits ist es auch nicht die hemmungslose Endlosigkeit einer Fernsehserie, die ein Publikum möglichst viele Jahre an einen Sender oder einen Streamingdienst binden soll. Dort wird ja in der Regel so lange weiterproduziert, bis keiner mehr zuguckt oder (wie z.B. bei „Game Of Thrones“) die Vorlage zu Ende geht. Auch als Cinematic Universe, wie etwa bei den zeitgenössischen Superheldenfilmen, ist das Gezeigte nur unzureichend beschrieben. Die allumfassende Verwobenheit ist kein Gimmick, das immer wieder neu ins Kino locken soll. Keine bewusste Hürde für Uneingeweihte.

    Am Ende ist man traurig, nicht erleichtert

    Die Form gibt den Geschichten das Ende zurück. Serien und gerade Erzähluniversen fehlt oft das Gefühl von Finalität, weil jede Erzählung nur eine Zwischenstufe ist und auch Werbung für die nächste Folge oder den nächsten Teil machen muss. Doch wenn hier am Ende der vierten Episode und noch einmal ganz am Ende die vier Darstellerinnen verabschiedet werden, dann ist das wirklich rührend. Eine Episode ist ganz Abschied, und es ist ein schmerzlicher Verlust. Man will noch nicht gehen, man will weiter sitzen bleiben. Man hat sich eingewöhnt und eingerichtet in dieser Welt der ständigen Verwandlung. Doch dieser Schmerz, das ist eben auch Kino. Der Augenblick, wo die Wirklichkeit zurückkehrt. Diese Schwellenerfahrung gehört dazu. Sonst ist es etwas anderes.

    „La Flor” führt ein Gespräch mit der Medienlandschaft von Vergangenheit und Zukunft. Der Film weiß um die Art, wie wir heute Bilder konsumieren. Das Bingen von Serien, das Zerlegen von ursprünglichen Kinoerfahrungen. Auf kuriose Weise vereint der Film das Moderne und das Postmoderne – der Wunsch, etwas Neues zu schaffen, trifft auf eine Welt, in der alles Zitat ist, in der nur noch die existierenden Elemente neu arrangiert werden. Meta-Spielereien, das Durchbrechen der vierten Wand, ein starkes Bewusstsein für die Logik von Genres – das alles hat die letzten Jahrzehnte des Kinos entscheidend geprägt.

    Hier wirken diese Zugänge allerdings nie eitel, als würde der Filmemacher sich unbedingt in den Mittelpunkt stellen oder seine Cleverness betonen wollen. Stattdessen wird gespielt und gescherzt, aber ohne die Ernsthaftigkeit zu verlieren. Der Film ist kein infantiler und beliebiger Unsinn. Es wird eben experimentiert. Man dreht die Stellschrauben, die Zutaten, bis etwas Neues passiert und entsteht. Fiktion wird Realität, Genres vermischen sich. Bemerkenswert ist, wie wichtig die Erzählperspektive für viele der Geschichten ist. Immer wieder übernehmen Voiceover das Geschehen, plötzlich wird der Film zur Novelle oder zum Briefroman.

    „La Flor“ ist weniger ein Film der Schnitte als der Tiefe.

    Ein weiteres Stilmittel, das alle Episoden miteinander verbindet, ist das Spiel mit Unschärfe. In der Welt von „La Flor“ existieren fast immer ein Vordergrund und ein Hintergrund. Llinás inszeniert lieber in die Tiefe, als zwischen den Figuren hin- und her zu schneiden. Oft entstehen dichte, enge Einstellungen, als müsste in jeder auch alle Erlebnisse der vergangenen und kommenden Stunden mitgedacht werden. Die vier Hauptdarstellerinnen stehen konsequent zusammen.

    Diese ewige, aufdringliche Unschärfe in den Einstellungen zeigt, dass es nicht nur um die Auflösung von Geschichten, sondern auch um die von Bildern geht. Was hat in der heutigen Flut von Informationen, was bleibt bei uns? Mariano Llinás und seine Kollaborateure rufen uns zu: „Das Kino ist tot! Lang lebe das Kino!“ Wenn am Ende dieser lange, volle Film zu Ende geht, kehrt er das Bild in seinem Weltrekord-Abspann buchstäblich auf den Kopf. Langsam kommt die Dunkelheit. Man erwartet sie mit Wehmut und einem entspannten Lächeln.

    Fazit: Ja, das Kino ist keine junge Kunstform mehr. Doch während den 14 Stunden von „La Flor“ fühlt es sich tatsächlich wieder so an wie damals vor 125 Jahren, als noch alles möglich schien. Ein Film wie Morgengrauen und frisch gefallener Schnee. Das Kino geht weiter.

    Wir haben „La Flor“ auf dem Filmfest München gesehen, wo er - wie von den Filmemachern intendiert - in drei Tagen in drei Teilen gezeigt wurde.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top