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    Freies Land
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Freies Land

    Deutschlands Genrefilmer Nr. 1

    Von Sascha Westphal

    Genrefilme aus Deutschland sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Die Kinocharts werden zwar immer noch von Komödien oder Historienfilmen bestimmt. Aber die Zeiten, in denen es Jahre dauerte, bis Dominik Grafs „Die Sieger“ seinem grandiosen Heist-Movie „Die Katze“ folgen konnte, sind glücklicherweise vorbei. Und ein Filmemacher, der daran einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat, ist Christian Alvart. Nachdem er 2005 mit dem dreckigen und zynischen Serienkiller-Thriller „Antikörper“ auf sich aufmerksam gemacht hatte, führte sein Weg erst einmal nach Hollywood. Eine Zeit lang sah es also so aus, als ob sich die Geschichten von Carl Schenkel und Roland Emmerich wiederholen würden. Aber nach zwei unter Wert verkauften internationalen Produktionen („Fall 39“, „Pandorum“) ist Alvart nach Deutschland zurückgekehrt und hat nach einem ersten Fernsehintermezzo mit „Banklady“ 2012 einen der ungewöhnlichsten deutschen Genrefilme der vergangenen Jahre gedreht.

    Wie schon „Antikörper“ prägt „Banklady“ und all seine späteren Arbeiten eine enorme Kenntnis der (Genre-)Filmgeschichte. Alvart folgt den Traditionen und hat zugleich eine eigene, extrem klare Vision vom Kino. Dass er wie bei seinen „Tatort“-Folgen mit Til Schweiger und der Fitzek-Tsokos-Verfilmung „Abgeschnitten“ gezielt auf sensationalistische Effekte setzt, hat ihm teils heftige Kritik eingetragen. Dabei erinnert die Konsequenz, mit der er gelegentlich auf Klischees setzt und sie auf die Spitze treibt, an Samuel Fuller („Shock Corridor“). Wie Fuller verfügt Alvart über ein untrügliches Gespür für Stimmungen und soziale Spannungen. Davon zeugt auch sein Thriller „Freies Land“. Von den ersten Drohnenaufnahmen an besticht sein Remake von Alberto Rodríguez’ „La Isla Mínima – Mörderland“ durch eine atmosphärische Dichte, die schließlich sogar seine Vorlage in den Schatten stellt.

    Ermittlungen im nordostdeutschen Nirgendwo.

    Die erste Begegnung der beiden Kommissare Markus Bach (Felix Kramer) und Patrick Stein (Trystan Pütter) wird von einem Missverständnis überschattet. Durch einen Autounfall ist der ursprünglich aus Hamburg stammende Stein viel zu spät in dem kleinen Städtchen in Mecklenburg-Vorpommern angekommen, in dem sie nach zwei verschwundenen Teenagerinnen suchen sollen. Das Hotel hat sein Zimmer anderweitig vergeben und er muss die Nacht deshalb zusammen mit Bach verbringen. Doch der hält Stein für einen Einbrecher und überwältigt ihn gewaltsam.

    Diese Konfrontation etabliert ein Muster, das sich wiederholen wird. Der Spätherbst 1992 ist geprägt von Misstrauen und Enttäuschung. Für die Bewohner des Städtchens, in dem sich seit der Wiedervereinigung westdeutsche Investoren breit machen, steht fest, was passiert ist. Die beiden Schwestern sind nach Berlin abgehauen, wie so viele andere zuvor auch schon. Schließlich gibt es hier im Nordosten der Bundesrepublik kaum eine Zukunft. Also stoßen Bach und Stein überall auf Widerstände, die auch nach dem Fund der verstümmelten Leichen der gefolterten und vergewaltigten Mädchen nicht geringer werden…

    Im Marschland hört dich niemand schreien

    Raureif bedeckt das Marschland rings um die kleine Stadt. Aber es ist nicht nur die Kälte, die diese verlassene Gegend so trostlos erscheinen lässt. Die Wende 89/90 hat zwar Freiheiten mit sich gebracht. Aber die großen Hoffnungen, die sich an sie knüpften, wurden in den zwei Jahren seit der Wiedervereinigung enttäuscht. Entgegen der Versprechungen, die 1990 gemacht wurden, blüht hier nichts außer dem Rost, der die wenigen Industrieanlagen in der Region überzieht. Die Unzufriedenheit sitzt tief, ebenso wie die Erinnerungen an das Leben in der DDR. Das bekommt vor allem der idealistische Patrick Stein zu spüren. In Hamburg hatte er mit seinem Glauben an Recht und Gerechtigkeit den Zorn seiner Vorgesetzten auf sich gezogen. Zur Strafe hat man ihn in den Nordosten versetzt, wo er nun mit einem Kollegen zusammenarbeiten muss, dessen DDR-Vergangenheit mehr als nur Fragen aufwirft.

    Die Konstellation entspricht der von Alberto Rodriguez’ politischem Krimi, der wenige Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur spielt und von Spaniens schwierigem Übergang in die Demokratie erzählt. Überhaupt folgt Christian Alvart seinem Vorbild sehr genau. Einige Szenen in „Freies Land“ unterscheiden sich fast nur durch das Licht und ein paar Äußerlichkeiten von denen aus „La Isla Mínima“. Trotzdem zeichnet sich dieses Remake durch eine bemerkenswerte Eigenständigkeit aus. Alvart und sein Co-Drehbuchautor Sigfried Kamml haben sich Rodriguez’ Geschichte auf bemerkenswerte Weise zu eigen gemacht. Ihr Film ist beinahe 25 Minuten länger als ihre Vorlage, und sie nutzen dieses Mehr an Zeit vor allem für eine Vertiefung der Figuren und für eine Intensivierung der Atmosphäre.

    Selbst nach dem Fund der zugerichteten Leichen stoßen die Ermittler überall auf Widerstand.

    Wie schon der francistische Polizist im Original leidet auch Felix Kramers Markus Bach an einer Krankheit, die ihn über kurz oder lang umbringen wird. Was Rodriguez andeutet, wird hier zur Gewissheit. Die Vergangenheit hat sich in Bach eingenistet und wuchert in dessen Körper. Der Krebs der Geschichte nagt aber nicht nur an ihm. Das ganze Land krankt an diesen Wucherungen, die 1990 niemand ernst genommen hat und die 1992, zwei deprimierende Jahre später, immer noch niemand wahrhaben will. Nicht einmal die Leichen der Schwestern ändern etwas an der Haltung der Bewohner des Dorfes. Die meisten von ihnen blicken einfach weg. Es wäre einfacher gewesen, weiter zu glauben, dass die Mädchen vor der Tristesse geflohen sind und nun irgendwo in Berlin oder dem Westen leben. Aber auch so verändert sich kaum etwas an den Verhältnissen. Bei der Suche nach dem Mörder stoßen Bach und Stein schnell an ihre Grenzen. An den tieferen Zusammenhängen dürfen sie nicht rütteln. Dafür ist das Geld, das nun aus dem Westen in die kleine Gemeinde fließt, zu wichtig.

    Letztlich ist „Freies Land“ in seiner Darstellung der deutschen Verhältnisse kaum weniger drastisch als „Abgeschnitten“ und „Dogs Of Berlin“, Alvarts Netflix-Serie über das Babylon Berlin. Nur greift er diesmal zu subtileren Mitteln. Statt auf Schockeffekte und sensationalistische Zuspitzungen setzt er bei seinem Blick zurück in die Nachwendezeit auf dezente Hinweise, die sich zu einem ungeheuer stimmigen Gesamtbild fügen. So hängen in den Hotelzimmern der beiden Kommissare immer noch sozialistische Parolen an den Wänden. Niemand ist auch nur auf die Idee gekommen, daran etwas zu ändern. Das System wurde ausgetauscht, doch die Menschen sind immer noch dieselben. Und so erzählt dieses Remake sehr viel über unsere heutige deutsch-deutsche Situation.

    Fazit: Mit seinem Remake von Alberto Rodríguez’ „La Isla Mínima – Mörderland“ beweist Christian Alvart, dass sich spannendes Genrekino und eine profunde Darstellung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse keineswegs widersprechen. Sie ergänzen sich vielmehr perfekt. So erzählt „Freies Land“ so viel mehr über die seit 30 Jahren schwelenden innerdeutschen Konflikte als viele wohlmeinende Dokumentationen und unzählige Leitartikel.

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