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    Ted Bundy: No Man Of God
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ted Bundy: No Man Of God

    Ein Serienmörderfilm wie kein anderer

    Von Oliver Kube

    Ein anhand von Verhaltensmustern, Indizien und Tatortspuren erstelltes Täterprofil soll erstmals bei der Suche nach Jack The Ripper im London des Jahres 1888 erstellt worden sein. Wie wir alle wissen, führte es damals trotzdem nicht zur Ergreifung des bis heute wohl bekanntesten und berüchtigtsten Serienmörders der Kriminalhistorie. Dennoch avancierte diese Methode zu einem der weltweit wichtigsten Werkzeuge der Behörden im Kampf gegen Mörder*innen, Sexualtäter*innen, Brandstifter*innen und Terrorist*innen.

    Wenn man sich die schiere Anzahl von wissenschaftlich und psychologisch ausgebildeten FBI-Agent*innen anschaut, die seit Dekaden als Protagonist*innen in Filmen und Fernsehserien zu sehen sind, ist es erstaunlich, dass die US-amerikanische Bundesbehörde tatsächlich erst 1972 vereinzelt damit begann, Profile von Schwerverbrecher*innen zu erstellen. 1985 richtete das FBI dann endlich eine eigene Abteilung ein, um den allzu oft über Motive und Herkunft der Täter*innen im Dunklen tappenden Ermittler*innen unter die Arme zu greifen. Der Grund: Der allmächtige, jahrzehntelang das Büro mit eiserner Faust regierende J. Edgar Hoover „glaubte“ einfach nicht an die zu diesem Zeitpunkt längst als veritable medizinische Fachdisziplin etablierte Psychiatrie.

    Ted Bundy (Luke Kirby) will vor seiner Exekution auspacken - aber sprechen will er nur mit einem ganz bestimmten Mann.

    Bill Hagmaier war einer der ersten fünf Agenten des damals neu gegründeten National Center For The Analysis Of Violent Crime. Die Regisseurin Amber Sealey und der Drehbuchautor C. Robert Cargill („Sinister“) haben „Ted Bundy: No Man Of God“ nun auf den Abschriften von Hagmaiers Gesprächen mit Ted Bundy aufgebaut. Der 1989 hingerichtete Killer von mindestens 30 Frauen zwischen 1974 und 1978 war schon häufiger Mittelpunkt von Kinowerken. Allerdings unterscheidet sich „Ted Bundy: No Man Of God“ von allem, was es vorher zu dem Thema gab. Denn wir sehen weder Bundys Taten noch geht es um die Tätersuche oder seine Verhaftung – und trotzdem ist der mit Krimi-, Doku- und Thriller-Elementen hantierende Film spannend und mitreißend.

    Im Jahr 1980 wird der berüchtigte Serienmörder Ted Bundy (Luke Kirby) zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt. Kurz vor der Vollstreckung des Urteils im Januar 1989 ist er bereit, bisher ungeklärte Details seiner Taten zu verifizieren und erstmals ein volles Geständnis abzulegen. Allerdings will er dies nur gegenüber Bill Hagmaier (Elijah Wood) tun. Mit dem FBI-Agenten hatte er sich schon während seiner Haft zunächst per Brief und dann auch unter vier Augen ausgetauscht. Der Beamte stimmt zu, sich noch einmal auf den manipulativen Bundy einzulassen und erneut in dessen beängstigende Psyche einzutauchen. Dabei entwickelt sich die ohnehin schon komplexe Beziehung zwischen den auf den ersten Blick so verschiedenen Männern in eine Richtung, die keiner von beiden hat kommen sehen…

    Eintauchen in eine historische Ära

    Immer wieder werden kleine Schnipsel von Archivaufnahmen aus den 1970ern und 1980ern in den Handlungsablauf eingebaut. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um Bilder des realen Ted Bundys. Stattdessen sind es Ausschnitte aus themenfremden Dokumentationen, Privatvideos, Nachrichtenmeldungen und Werbeclips. Es geht Sealey einerseits darum, ein visuelles Ambiente zu etablieren, andererseits aber auch mal subtil, mal plakativ die schwankende Gefühls- und Gedankenwelt der beiden Hauptfiguren zu illustrieren. Die Farbgebung der von Chef-Kamerafrau Karina Silva („Beauty Mark“) eingefangenen Bilder passt sich diesem historischen Material mit einem leicht verblichenen Ton geschickt an. Ausstattung, Kostüme und Frisuren sind für einen Indie-Film, zudem mit begrenztem Budget unter COVID-19-Bedingungen gedreht, ebenfalls erstaunlich authentisch.

    Zwar kann das Publikum allein schon aufgrund der Bildqualität und Schärfe problemlos zwischen dem historischen und dem neu gedrehten Material unterscheiden, trotzdem gibt diese bemerkenswerte Detailtreue dem Ganzen einen dokumentarischen Anstrich. Was passend ist, denn „Ted Bundy: No Man Of God“ versucht nie reißerisch, sondern so authentisch und glaubhaft wie möglich zu sein. Wozu auch der reale Bill Hagmaier viel beigetragen hat. Während der Entwicklungsphase und selbst am Set sprach die Regisseurin regelmäßig mit ihm. Dabei ging es nicht nur um technische und visuelle Aspekte, sondern speziell auch die Stimmungen gewisser Storypunkte. Das Ergebnis ist ein erstaunlich immersives Kino-Erlebnis.

    Bill Hagmaier hört sich die Verhör-Tapes im Auto noch mal an - und erschrickt dabei über sich selbst...

    „Ted Bundy: No Man Of God“ ist kein klassisches Kammerspiel. Aber die meisten und entscheidenden Szenen finden trotzdem in den Besuchsräumen des Staatsgefängnisses von Bradford County, Florida statt. Hagmaier erleben wir gelegentlich auch außerhalb des Gefängnisses, zum Beispiel bei der Interaktion mit seinem Chef. Der wird komplett sachlich und auf den Punkt von „Terminator 2“-Veteran Robert Patrick verkörpert. Oder wir sehen ihn in seinem Auto, wie er während der Fahrt – mit endlos erschöpftem Gesichtsausdruck – Tapes seiner Vernehmungen anhört und realisiert, wie sehr ihm diese unter die Haut gehen.

    Elijah Wood ist hervorragend in diesen Momenten der Reflexion. Seine zwischen Müdigkeit, Resignation und schierem Entsetzen variierenden Blicke sagen mehr, als es Dialoge oder Voice-Over könnten. Noch effektiver sind allein die Segmente mit dem ebenso großartig agierenden Luke Kirby (Emmy-prämiert für „The Marvelous Mrs. Maisel“) als seinem Gegenpart. Wir erleben Bundy exklusiv innerhalb der Knastmauern und auch nur dann, wenn Hagmaier dabei ist. Was er außerhalb der Gespräche tut oder denkt, erfahren wir nicht; ein brillanter Schachzug von Sealey, den sie klugerweise bis zum unspektakulären, aber gerade deshalb so gut funktionierenden Finale beibehält.

    Ein abgründiger Blick ins Innerste

    Als Bundy seiner engagierten Anwältin (Aleksa Palladino) erklärt, das der neben ihr stehende Hagmaier sein bester Freund sei, reagiert dieser mit einem überraschten, fast schockierten Blick, protestiert aber nicht – und doch gibt es komplette, auch emotionale Offenheit und Ehrlichkeit von beiden Seiten erst in ihrem letzten Gespräch. „Ted Bundy: No Man Of God“ wird zwar als Thriller vermarktet, aber die einzigen Szenen, die diesem Genre entsprechen, sind die, in denen Hagmaier sich in Bundy hineindenkt und realisiert, dass er – ein eigentlich grundguter Mann – zu derlei Gräueltaten wohl ebenso fähig wäre, wenn er es nur zuließe. Speziell hier ist der nervöse, teilweise dröhnende und sehr dringlich wirkende Score von Clarice Jensen („Was geschah mit Bus 670?“) hilfreich. Cello sowie analoge Synthesizer unterstreichen die Intensität dieser Momente und verdeutlichen die Ängste des sonst so wissenschaftlich nüchtern agierenden Familienvaters.

    Ansonsten befinden wir uns hier durchgehend im Drama-Bereich. Es gibt keine Nachstellungen von Bundys schrecklichen Morden, keine Verfolgungsjagden oder ähnliches. Wer derlei sehen will, muss sich einen der beinahe unzähligen anderen Filme über den berüchtigten Serienkiller anschauen. Wer aber einen verstörenden Blick in dessen Innerstes riskieren möchte, verstehen will, wie ein zweifellos intelligenter, gebildeter und durchaus charmanter Mann vom Schlage Bundys dazu kommen konnte, solche Dinge zu tun, der ist hier goldrichtig und weit über den Abspann hinaus mit Stoff zum Nachdenken versorgt…

    Fazit: Zwei exzellente Hauptdarsteller dominieren ein atmosphärisch starkes und trotz seines Themas erfreulich wenig reißerisches Indie-Charakterdrama.

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