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    Meine Stunden mit Leo
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Meine Stunden mit Leo

    Emma Thompson bestellt sich einen Callboy

    Von Teresa Vena

    Die Australierin Sophie Hyde hat sich auch schon in ihren ersten beiden Filmen mit Sexualität und Geschlechterrollen in verschiedenen Erscheinungsformen auseinandergesetzt: Während es in „52 Tuesdays“ von 2014 noch um die Transsexualität eines Elternteils ging, folgte sie 2019 in „Animals“ zwei Freundinnen bei ihrem Versuch, sich sowohl ihre eigenen Lebenswünsche zu erfüllen als auch den gesellschaftlichen Erwartungen an sie als Frauen nachzukommen.

    Ihrem dritten Spielfilm „Meine Stunden mit Leo“ wird nun aber noch mal ein ganz anderes Maß an Aufmerksamkeit zuteil – und das liegt vor allem daran, dass Emma Thompson die Hauptrolle übernommen hat. Die Oscarpreisträgerin spielt eine frisch pensionierte Frau, die sich einen Callboy ruft, um sich im Ruhestand lieber spät als nie ihre sexuellen Wünsche zu erfüllen. Aber Sophie Hyde geht es um mehr als nur den seit ein paar Jahren schwer angesagten „Frau in den besten Jahren will es noch mal wissen“-Plot – und so hat sie im Vorfeld auch mit realen Sexarbeitern gesprochen, wobei sie vor allem die Sorgfalt überrascht hat, die viele von ihnen an den Tag legen, wenn es um das Einfühlen in ihre Kund*innen geht.

    Die Religionslehrerin Nancy Stokes (Emma Thompson) lernt von Callboy Leo Grande (Daryl McCormack), was es neben der Missionarsstellung sonst noch alles gibt...

    Die frisch pensionierte Religionslehrerin Nancy Stokes (Emma Thompson) muss nach dem Tod ihres Mannes erkennen, dass sie noch nie im Leben wirkliches sexuelles Vergnügen erlebt hat. Ab sofort wolle sie allerdings nie wieder einen Orgasmus vortäuschen, sagt sie dem jungen Leo Grande (Daryl McCormack), den sie sich online herbeibestellt hat, damit er sie in die Kunst des Liebemachens einführt. Denn abgesehen von der klassischen Missionarsstellung kennt sie nichts anderes. Ihr Mann hatte sich beispielsweise strikt dem Oralsex verwehrt, weil dieser sowohl für den Mann als auch die Frau demütigend sei.

    Leo gelingt es mit viel Einfühlungsvermögen, Nancys anfängliche Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen. Was eigentlich nur eine einmalige Sache werden sollte, erhält schließlich doch noch eine Fortsetzung. Die beiden kommen sich zunehmend näher und erreichen schließlich eine Intimität, die über das rein Körperliche hinausgeht. Doch Leo hält aus gutem Grund an seiner professionellen Distanz fest, während Nancy eine Grenze überschreitet, die besser nicht überschritten werden sollte…

    Schwache Dialoge ...

    Bei diesem Plot hätte auch leicht eine platt-alberne oder platt-betroffene Ansammlung von Allgemeinplätzen über die weibliche Sexualität im Alter sowie die Fallstricke der Prostitution herauskommen können. Aber dafür sind die vorsichtigen Verschiebungen in der Beziehung zwischen den Hauptfiguren zu faszinierend: Die beiden locken sich immer wieder gegenseitig aus der Reserve und erst am Ende stellt sich ein gewisses Gleichgewicht in dem Machtgefüge ein. So bröckelt erst langsam die aalglatte Fassade von Leo Grande, die ihn als selbstbewusst und über jegliche Vorurteile erhaben zeigen soll. Daryl McCormack („Das Rad der Zeit“) macht die Verletzlichkeit des jungen Mannes subtil sichtbar. Trotzdem bewahrt er erstaunlich lange souverän die Professionalität, während Nancy immer mehr die vereinbarte Grenze zwischen seinem beruflichen und privatem Ich überschreitet.

    Es ist nur etwas enttäuschend, wie der Film dann mit dem dramaturgischen Höhepunkt am Ende umgeht. Was Leo selbst als schlimmen Vertrauensbruch deutet, nimmt das Drehbuch hingegen gar nicht erst sonderlich ernst. Stattdessen entwickelt sich daraus eine rührselige Versöhnungssequenz, die den Figuren auch noch das letzte bisschen Ambivalent entzieht. Aber mehr Mut zur Konfrontation fehlt hier an mehreren Stellen. Zumindest die Dialoge sind nämlich im Grunde genauso banal, wie man sie sich nach dem Lesen der offiziellen Inhaltsbeschreibung zum Film vorstellen würde. Vielleicht schmunzeln man kurz, wenn Leo erzählt, dass er seine Mutter glauben lässt, auf einer Bohrinsel zu arbeiten – aber diese Assoziation von Callboy und Village-People-Berufen ist trotzdem ein alter Hut. An anderen Stellen wird’s sogar regelrecht dämlich – etwa wenn Nancy von ihrer Theorie berichtet, dass es für jede Generation einen Krieg geben sollte. Der würde nämlich für einen nötigen gesellschaftlichen Energieschub sorgen und langweilige Spießer (wie ihren eigenen Sohn) von vorneherein verhindern.

    ... starke Darsteller

    Die Textebene ist also eindeutig die größte Schwäche von „Meine Stunden mit Leo“. Dass die Bettgeplänkel trotzdem zu etwas Sehenswertem geworden sind, verdankt der Film – neben der bereits angesprochenen, subtil-überzeugenden Performance von Dylan McCormack – vor allem seinem Star Emma Thompson. Sie verkörpert die zunächst noch so biedere Lehrerin mit trockenem Witz. Bereits in den ersten Szenen zeigt sie sich in absoluter Höchstform, als sie nervös auf dem Sofa umherrutscht, das Sektglas eilig leert und wie ein Wasserfall auf Leo einredet. Nancy schwankt zwischen ihren Wünschen und ihrer anerzogenen Scham. Köstlich ist die Passage, als sie zum zweiten Treffen mit Leo eine Liste hervorholt, auf der verschiedene Sexualpraktiken stehen, die sie „der Vollständigkeit halber“ einmal ausprobiert haben will. Auch das neu erlangte Bewusstsein für ihren eigenen Körper nimmt man ihr ab, selbst wenn Thompson im Interview erzählt hat, dass dies das härteste war, was sie je mache musste – ihren eigenen Körper entspannt im Spiegel ansehen, ohne über ihn zu urteilen.

    Was „Meine Stunden mit Leo“ darüber hinaus zugutekommt, ist eine strenge, einheitlich durchgehaltene Form. Die Kamera ist suggestiv, bewegt sich in den auch für die Figuren emotional aufwühlenden Momenten, wird dann aber auch gleich wieder ruhiger. Trotz der reduzierten Mittel wirkt die Inszenierung zügig, so dass keine Längen entstehen, wenn man auch die ganze Schlussszene hätte streichen können. Die wesentliche Konzentration auf das Hotelzimmer als einzigen Spielort erhöht das Gefühl der Intimität, das der Film zwischen den beiden Hauptfiguren erzeugen will. Dort haben sie einen geschützten Raum, in dem sie sich aufeinander einlassen können. Insgesamt erinnert hier vieles an ein Theaterstück. Aufgeteilt ist die Handlung in drei Akte plus Epilog. Die Interaktion zwischen den Darstellern, die klar artikulieren und sich nie ins Wort fallen, ist ebenfalls an den Duktus des klassischen Theaters angelehnt. Mögliche Vorbilder könnten „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski oder „The Party“ von Sally Potter sein. Doch im Vergleich mit diesen Beispielen fehlt es „Meine Stunden mit Leo“ dann doch noch ein Stück weit an Biss und Tiefe.

    Fazit: Die teilweise platten, teilweise banalen Dialoge gleicht der Film mit einer präzisen Inszenierung und noch mehr durch die herausragende Besetzung mit dem irischen Newcomer Daryl McCormack und der britischen Veteranin Emma Thompson mehr als aus.

    Wir haben „Meine Stunden mit Leo“ im Rahmen des Sundance Filmfestival 2022 gesehen.

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