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    Mutter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mutter

    Experimentalkino mit einer Extraportion Starpower

    Von Ulf Lepelmeier

    Wer bei dem Titel „Mutter“ im Zusammenspiel mit der Besetzung von Anke Engelke witzige Anekdoten rund um das Mutterdasein im Stil der Sketch-Comedy „Ladykracher“ erwartet, ist auf dem völlig falschen Dampfer. Carolin Schmitz` nach „Schönheit“ und „Portraits Deutscher Alkoholiker“ dritter Dokumentarfilm präsentiert sich vielmehr als eigenwilliges fragmentarisches Kunstprojekt, in dem sich die beliebte Komikerin ganz zurücknimmt und buchstäblich als Sprachrohr für acht interviewte Mütter fungiert.

    Während diese abwechselnd und ohne klare Chronologie über ihre Lebenserfahrungen berichten, beobachten wir die „LOL: Last One Laughing“-Siegerin Anke Engelke bei ganz alltäglichen Tätigkeiten, wobei sie ihre Lippen so bewegt, als würden die aus dem Off eingespielten Interviewausschnitte tatsächlich aus ihrem Munde stammen. Durch diesen besonderen filmischen Ansatz, welcher eine Identifikation mit den tatsächlichen Protagonistinnen der Dokumentation von vorneherein unterbindet, wird zwar eine große Distanz zu den Lebensgeschichten der Frauen aufgebaut – im selben Moment entsteht so aber auch ein Collagen-artiges, vielfältiges und selbst die sonst oft im Dunkeln verbleibenden Facetten ausleuchtendes Bild moderner Mutterschaft.

    Anke Engelke ist von der ersten bis zur letzten Sekunde des Films in jeder Einstellung zu sehen.

    Der Mutterdaseinsmythos besagt, dass jede Frau die Mutterrolle für sich ersehnen, genießen und nur positiv empfinden sollte. Offen darüber zu sprechen, in welchen Schattierungen das Mutterdasein wahrgenommen oder die eigene Mutterschaft gar in Frage gestellt wird, ist auch heutzutage immer noch schwierig. Was heißt es, eine Mutter zu sein? Welche gesellschaftlichen Zwänge und Vorstellungen sind damit verbunden? Und wie geht man selbst mit den Rollen als Frau, Partnerin, Mutter zwischen Selbstbild, Fremdzuschreibung und Selbstverwirklichungswünschen um?

    Caroline Schmitz beschäftigt sich in „Mutter“ mit diesen Fragen, ohne die acht von ihr interviewten Frauen in Kurzbiographien vorzustellen. Sie verwendet ihre artikulierten Lebensgeschichten und Gedanken in einem entfremdenden filmischen Rahmen als Bruchstücke, um daraus ein übergeordnetes Bild entstehen zu lassen. Die interviewten Frauen erzählen dabei einfach drauflos. Sie lassen an ihren Lebenswegen teilhaben, die von der glücklichen oder der sich zumindest arrangierenden Mutter bis hin zu einer Frau, die mit einem neuen Partner ohne ihre Kinder ins Ausland gegangen ist, reichen. 

    Streng experimentell

    Die von Schmitz gewählte Versuchskonstellation ist spannend und eröffnet Denkansätze zu Selbst- und Fremdbestimmung, Mutterdasein und den gesellschaftlich festgelegten Rollenbildern. Aufgrund der strikten Anordnung kann das Doku-Experiment aber nie konkreter werden, sondern mäandert mit den alle paar Minuten wechselnden Szenen zwischen Themen, Gedanken und Einstellungen hin- und her, ohne einen der aufgeworfenen Punkt weiterzuverfolgen oder zu konkretisieren. Zudem wüscht man sich dann oft doch, etwas mehr zu den Hintergründen und Beweggründen der Interviewten zu erfahren.

    Anke Engelke ist die Erfüllungsgehilfin des dokumentarischen Vorhabens. Sie hat sich der herausfordernden Aufgabe gestellt, sich alle Interviewfragmente mit ihren unterschiedlichen Sprachrhythmen und insbesondere den unberechenbaren Sprech- und Atempausen in drei Monaten anzutrainieren. In einer extremen Form des lip syncings wird sie quasi zur Botschafterin der interviewten Frauen, während sie Szenen im Leben einer alleinstehenden Schauspielerin performt. So bewegt sie beispielsweise zum ersten Interviewtext über Frigidität und Untreue ihre Lippen, während sie in der Badewanne sitzt. Später „spricht“ sie die Gedanken der Frauen mal in der Waschstraße, beim Fensterputzen, in der Garderobe oder auch auf der Theaterbühne mit.

    Anke Engelke hat monatelang die Interviewausschnitte der acht Frauen auswendig gelernt, um sie auch wirklich exakt lippensynchron mitsprechen zu können.

    Dass Anke Engelke auch in dramatischen Rollen überzeugen kann, hat sie zuletzt mit ihrer Hauptrolle im Coming-Of-Age-Roadmovie „Mein Sohn“ unter Beweis gestellt und auch in Carolin Schmitz Dokumentarfilm, in dem sie von der ersten bis zur letzten Sekunde von der Kamera eingefangenen wird, ist sie mit ihrem zurückgenommen-distanzierten Spiel und ihren synchronen Lippenbewegungen über jeden Zweifel erhaben. Das eigenwillige „Mutter“-Projekt wäre ohne ihr Mitwirken sowie ihr Herzblut für die besondere Versuchsanordnung wohl schlicht nicht denkbar gewesen.

    Fazit: Regisseurin Carolin Schmitz gelingt mit Hilfe ihrer großartigen Hauptdarstellerin Anke Engelke ein abstrakt-bruchstückhaftes, zugleich universelles und das Publikum auf Abstand haltendes filmisches Kunstprojekt, das aus weiblicher Sicht die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft, unterschiedliche Ansichten zur Mutterschaft sowie den Umgang mit dem Mutterdasein behandelt.

    Wir haben „Mutter“ im Rahmen des Filmfest München 2022 gesehen.

     

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