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    Belle
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Belle

    "Die Schöne und das Biest" im Cyberspace

    Von Ulf Lepelmeier

    Mit „Belle“ knüpft Mamoru Hosoda zumindest thematisch an den meisterhaften „Summer Wars“ (4,5 Sterne von FILMSTARTS) an: In dem Kinohit aus dem Jahr 2010 muss eine traditionsbewusste japanische Großfamilie gegen eine Hacker-AI in der Online-Community „OZ“ antreten. So verschränkt der Anime-Regisseur nach seinem Erstlingswerk, dem Auftragsfilm „Digimon – Der Film“, und eben „Summer Wars“ nun bereits zum dritten Mal auf kreative Weise die Realität eines japanischen Teenagers mit einer überbordenden virtuellen Cyberwelt. Angereichert mit J-Pop-Musical-Elementen, Versatzstücken aus „Die Schöne und das Biest“ sowie kritischen Seitenhieben auf den Follower-Wahn und die Shitstorm-Unkultur entsteht so ein bombastisch-buntes, verspieltes Märchen über Verlust, Selbstakzeptanz und Gemeinschaft für die TikTok- und Instagram-Generation.

    Die 17-jährige Suzu lebt mit ihrem Vater in einem abgeschiedenen Dorf auf dem Lande. Seit dem tragischen Tod der Mutter ist das einst fröhliche Mädchen in sich gekehrt und spricht nur noch das Nötigste. Ihrem besorgten Vater geht sie beständig aus dem Weg und das Singen, das ihr einst so viel Freude bereitete, hat sie komplett aufgegeben. Die technikaffine Hiro ist in der Schule ihre einzige Bezugsperson. Als diese sie in die virtuelle Welt von „U“ einlädt, legt Suzu zunächst noch mit gemischten Gefühlen einen Account für das fünf Milliarden Online-Mitglieder zählende Netzwerk an. In der Anonymität des Programms traut sich das traumatisierte Mädchen wieder zu singen und schon bald steigt sie mit ihren selbstgeschriebenen Songs zum gefeierten Avatar-Star Belle auf. Die User beginnen damit zu spekulieren, wer sich hinter der anmutigen Sängerin mit den Sommersprossen verbergen könnte und wollen ihre wahre Identität erfahren. Zudem fühlt sich Belle magisch zu einem bedrohlich aussehenden Avatar hingezogen, der eines ihrer Konzerte stört. Fasziniert von dem sich nicht um die Regeln der Cyberwelt scherenden „Biest“, macht sich Belle daran, mehr über diese geheimnisvolle Gestalt in Erfahrung zu bringen…

    In "Belle" treffen wunderschöne klassische Anime-Hintergründe in der realen Welt ...

    „Belle“ wechselt spielend zwischen konventionellen, vorwiegend handgezeichneten Animationen der Realität und den vornehmlich 3D-gerenderten Bildern der Cyberwelt, mit ihren strahlenden Lichtern und Farben. Während „U“ mit glänzenden, unendlich erscheinenden Strukturen und der schieren Fülle an verschieden skurrilen Avataren visuell beeindruckt, begeistern die Animationen der realen Welt mit wunderschönen Landschaften und Hintergründen, die einen gekonnten Gegenentwurf zur schillernden, aber auch etwas technisch-sterilen Cyberumgebung darstellen. Für das fantasievolle Charakterdesign zeichnete sich dabei der Disney-Animationskünstler Jin Kim verantwortlich, der auch schon bei Filmen wie „Zoomania“, „Raya und der letzte Drache“ oder „Encanto“ mit an Bord war.

    Disneys Adaption von „Die Schöne und das Biest“ nimmt für Hosoda einen ganz besonderen Stellenwert ein. Nachdem er 1991 sein Studium abgeschlossen und seinen ersten Job bei einer Produktionsfirma angetreten hatte, war er so unzufrieden mit seiner Arbeitssituation und seinen Zukunftsaussichten, dass er in Betracht zog, dem Filmsektor komplett den Rücken zu kehren. Doch der märchenhafte Disney-Animationsfilm zog den damals desillusionierten Animationskünstler so sehr in seinen Bann, dass er beschloss, seinen Weg weiter zu verfolgen. In „Belle“ empfindet Hosoda nun Schlüsselszenen des von ihm verehrten Disney-Klassikers in einem ganz eigenen Look nach. Dabei sind die bekannten Motive wie die verblühende Rose oder die Balkonszene im Schloss des Biests konsistent in die Story der im wahren Leben von tiefer Traurigkeit ergriffenen Suzu eingebunden. Die beiden Avatare von Belle und dem Biest stehen hier noch stärker für im realen Leben gezeichnete Personen, die in ihrer inneren Verletzlichkeit zueinander finden.

    Überbordende Bildgewalt

    Bei der Entstehung von „Belle“ begleitete Mamoru Hodsoda beständig der Gedanke, wie seine beiden kleinen Kinder mit ihrer Selbstdarstellung im realen und auch im virtuellen Leben umgehen werden und wie jeder User in den Sozialen Medien doch eine oder mehrere Existenzen unabhängig vom eigenen Leben führen kann. Die Chancen und auch Tücken des Cyberspace hatte er bereits in seinem ersten Film, einem Teil des Digimon-Universums, thematisiert und dann in künstlerisch eigenständiger Weise im herausragenden „Summer Wars“ nochmals viel genauer unter die Lupe genommen. Das U-Metaverse in „Belle“, in dem die Begeisterung des Regisseurs zu Fantasy-Kreaturen und überbordenden Massenszenen nach „Der Junge und das Biest“ erneut voll zum Ausdruck kommt, ist in gewisser Weise als Update der OZ-Welt in „Summer Wars“ zu verstehen.

    In diesem spielten Cyberbekanntheit und der Kampf um Likes allerdings noch keine Rolle und das Augenmerk lag eher auf dem Risiko der Identitätsaneignung und der zunehmenden Verschränkung und damit möglichen Anfälligkeit von technischen Systemen. U fühlt sich nun zwar visuell wie technisch eher wie eine Science-Fiction-Vision an, doch erscheint Hosodas virtueller Kosmos, der auch aktuelle Probleme wie Cybermobbing und Shitstorms abbildet, nicht als allzu ferne Zukunftsfantasy. Beide Filme eint zudem der herzliche Appel an den Familien- und Gruppenzusammenhalt sowie die Macht der Gemeinschaft.

    ... auf die schiere, überbordende Bildgewalt in den Szenen in der Cyberwelt "U".

    Die Musik ist genauso bombastisch wie das U-Universum mit seiner Fülle an umherwimmelnden Kreaturen. Das ist ja auch kein Wunder, schließlich spielt Gesang für Suzu und ihre Geschichte doch eine essenzielle Rolle. Trotzdem lässt sich Hosodas Film nicht als J-Pop-Musical einordnen. Vielmehr hat der Regisseur eine unbändige Freude daran, in seinem Werk unterschiedlichste Elemente aus Sci-Fi, Coming-of-Age, Liebesfilm, Drama, Komödie, Thriller und eben Musical zu verquicken. Das Tempo des Films ist dabei allerdings so hoch, dass nicht viel Zeit für Zwischentöne bleibt und sich einige Bestandteile, die für sich genommen funktionieren und zusätzliche Abwechslung und Genrespitzen aufbieten, nicht immer nahtlos in den Erzählfluss einfügen.

    Einzelne Szenen stechen dabei als ungeheuer dramatisch oder auch kompromisslos humorvoll heraus. So nimmt sich der Regisseur plötzlich richtig Zeit, um einen spaßigen Moment zwischen zwei liebestrunkenen Teenagern wirklich auszukosten oder erzeugt der Film einen Augenblick großer Betroffenheit, wenn ein Junge immer wieder eindringlich in die Kamera schreit, dass er keine leeren Anteilsbekundungen mehr ertragen kann. Trotz der optischen und inhaltlichen Überfrachtung und der zahlreichen Versatzstücke versteht es Hosoda aber letztlich gekonnt, den emotionalen Kern seines Cyber-Märchens im Auge zu behalten. Die ergreifende Geschichte eines Mädchens, das nach dem Tod der Mutter seinen Seelenfrieden und seine eigene Stimme finden muss, erdet die Vorkommnisse und stellt den klaren Dreh- und Angelpunkt des Films dar.

    Fazit: „Die Schöne und das Biest“ im Cyberspace – Mamoru Hosoda bettet seine Hommage an den Disney-Animationsklassiker in eine fantasievolle Welt der Avatare ein, in der sich jeder neu erfinden und ausleben kann. Zugleich zeigt „Belle“ aber auch die Tücken von VR- bzw. Social-Media-Umgebungen auf und bricht letztlich eine Lanze für die Kraft der menschlichen Gemeinschaft.

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