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    The Innocents
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    The Innocents

    Jenseits von Gut und Böse

    Von Christoph Petersen

    Die Protagonist*innen von „The Innocents“ mögen alle nur so um die zehn Jahre alt sein – und trotzdem fühlt sich das norwegische Fantasy-Drama an wie eine erwachsenere und vor allem gnadenlos-ehrliche Variante der „X-Men“. Kinder können grausam sein – und wenn Regisseur und Drehbuchautor Eskil Vogt seinen telekinetisch und telepathisch begabten Grundschul-Held*innen während der 117 Minuten von „The Innocents“ konsequent auf Augenhöhe begegnet, dann kommen ihre Ängste, ihre Verzweiflung, aber eben auch ihre Taten einem solchen Schlag in die Magengrube gleich, dass man sich davon auch nach dem Rollen des Abspanns so schnell nicht wieder erholt.

    Selbst bei der Deutschlandpremiere auf dem Fantasy Filmfest, wo das Publikum eine härtere Gangart sehr wohl gewohnt ist, haben einige Zuschauer*innen verstört das Handtuch geworfen, als die Kids eine wehrlose Katze das Treppenhaus hinuntergeworfen und anschließend noch weiter gequält haben. Das ist zwar nachvollziehbar, aber Eskil Vogt nutzt solche Szenen eben nicht, um platt zu schockieren, sondern um ganz tief und ohne eine vorgeschobene Moral in die geheime Welt der Kinder vorzudringen. Die bleibt uns Erwachsenen nämlich nicht nur in der Regel verschlossen, sondern ist eben oft auch extrem grausam.

    Die neunjährige Ida sieht zwar aus, als könne sie keiner Fliege was zuleide tun ...

    Als Ida (Rakel Lenora Fløttum) mit ihrer Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) und ihren Eltern in eine Wohnung in einer Hochhaussiedlung umzieht, ist die Neunjährige von der neuen Umgebung zunächst wenig begeistert. Ihren Frust lässt sie auch an ihrer wehrlosen älteren Schwester aus, die noch im Kleinkindalter eine Form von regressivem Autismus entwickelt und dabei sogar das Sprechen verlernt hat. Deshalb kann sie sich auch nirgendwo Hilfe holen, wenn Ida sie kneift oder ihr gar Glasscherben in die Schuhe füllt.

    Die Situation wird erst besser, als Ida auf dem Spielplatz der Siedlung neue Freunde findet: Die zutiefst empathische Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim) scheint sich per Telepathie ganz normal mit der für andere nur unverständlich stammelnden Anna unterhalten zu können, während die Zaubertricks des telekinetisch veranlagten Ben (Sam Ashraf) zunächst noch Eindruck schinden, aber mit der Zeit immer sadistischere und grausamere Züge annehmen…

    Das geheime Leben der Kinder

    Während uns Animationsfilme bereits in das geheime Leben der Spielzeuge („Toy Story“) und das geheime Leben der Haustiere („Pets“) eingeführt haben, stößt „The Innocents“ nun in eine geheime Welt vor, die im ersten Moment zwar ganz nah erscheint, uns in Wahrheit aber noch viel fremder ist. Auf die Idee gekommen ist Eskil Vogt beim Abholen seiner Kinder von der Schule: Solange sie ihn nicht gesehen haben, verhielten sie sich auf dem Pausenhof mit den anderen Schüler*innen wie ihm völlig fremde Menschen. Natürlich wird diese Idee im Film durch das Hinzufügen der Superkräfte überhöht – allerdings nur minimal. Im Gegensatz zu etwa „Chronicle – Wozu bist du fähig?“ gibt Eskil Vogt nämlich nie den gängigen Superhelden-Klischees nach, sondern bleibt immer ganz nah dran an der Lebensrealität seiner noch im Sandkasten spielenden Figuren.

    Die trügerisch-sonnige Bilder einfangende Kamera von Sturla Brandth Grøvlen, dem Mann hinter dem One-Shot-Wunder „Victoria“, folgt dabei einer jungen Nachwuchsschauspielerin, die dem Titel des Films (auf Deutsch „Die Unschuldigen“) wirklich alle Ehre macht: Mit ihren blonden Zöpfen wirkt die zierliche Rakel Lenora Fløttum, als könne sie tatsächlich keiner Fliege was zu Leide tun – bis sie freudig mit einem Stock in einem Ameisenhaufen herumstochert und dann wenig später auch an der bereits erwähnten Katzenszene Anteil hat. Trotzdem sind Ida & Co. alles andere als klassische Teufelskinder wie aus einem Horrorfilm – stattdessen sind sie in ihrem jungen Alter eben einfach noch jenseits von Gut und Böse.

    ... aber gemeinsam mit Ben lässt sie sich dann doch zu der einen oder anderen Grausamkeit hinreißen.

    So gibt es auch immer wieder Momente unendlicher Zärtlichkeit – gerade zwischen der telepathischen Aisha und der autistischen Anna, die sich im weiteren Verlauf als die Mächtigste des Spielplatz-Quartetts herausstellen wird. Aber auch bei Ben, quasi dem Magneto der Erzählung, spürt man zunächst die Resignation, welche die ständigen Umzüge mit seiner Mutter bei ihm verursachen. Es tut richtig weh, diese Machtlosigkeit eines Kindes auf der Leinwand mitzuerleben (und sie dabei auch selbst im Kinosaal als bloßer Beobachter zu spüren) …

    … aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was passiert, wenn sich Ben schließlich nahezu unbeteiligt seiner Machtfülle hingibt: Dann überschüttet er seine eigene Mutter nicht nur mit kochendem Wasser, sondern lässt sie anschließend auch über viele Stunden hinweg elendig auf dem Küchenboden verrecken – und das ist noch nicht mal der grausamste Moment. Selbst solche betont nihilistischen Comic-Adaptionen wie „The Punisher“ oder „The Boys“ wirken da im Vergleich zur geerdeten Gnadenlosigkeit einiger Szenen in „The Innocents“ plötzlich wie der reinste Kindergeburtstag.

    Das kleine Finale

    „The Innocents“ geht auch deshalb so sehr an die Nieren, weil er so unglaublich intim erzählt ist – eben wie die vermeintlich harmlose Fehde von ein paar Grundschüler*innen auf dem Pausenhof. Wenn sich die Parteien dann im „großen“ Finale auf dem Spielplatz gegenüberstehen, dann bekommt von den ganzen Eltern um sie herum niemand etwas davon mit – nur die spielenden Kinder spüren, dass hier gerade ein für alle anderen ganz unscheinbarer Kampf auf Leben und Tod stattfindet.

    Da kann man nur erleichtert sein, als Erwachsener nach knapp zwei Stunden in seine eigene Welt zurückkehren zu dürfen – selbst wenn man (seine) Kinder anschließend vielleicht nie wieder mit denselben Augen sieht…

    Fazit: Gnadenlos böse und dabei gnadenlos gut! „The Innocents“ mag im Kern als Sandkasten-Version der „X-Men“ daherkommen, ist trotz der kindlichen Protagonist*innen aber ein ebenso radikales wie niederschmetterndes Meisterwerk.

    Wir haben „The Innocents“ im Rahmen des Fantasy Filmfest 2021 gesehen, wo er als Center Piece gezeigt wurde.

     

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