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    A Thousand And One
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    A Thousand And One

    Nicht ohne meinen Sohn

    Von Michael Meyns

    Wenn über das Schicksal der schwarzen Bevölkerung Amerikas gesprochen wird, geht es neben dem immer noch allzu alltäglichen Rassismus und den Folgen der Sklaverei oft auch um ein Thema, dessen Diskussion besonders heikel ist: abwesende Väter und zerrüttete Familien. Aber genau darum geht's im ebenso kraftvollen wie überraschenden Debütfilm „A Thousand And One“ der Regisseurin A.V. Rockwell. Sie erzählt vom Bemühen einer Mutter, die ihrem Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen versucht, aber auch von den Veränderungen ihrer Heimatstadt New York, die sich ab den Neunzigerjahren radikal gewandelt hat.

    New York, Mitte der 1990er Jahre: Gerade ist mit Rudy Giuliani ein Mann Bürgermeister geworden, der die Metropole im nächsten Jahrzehnt komplett umkrempeln wird. In dieser Ära kommt Inez (Teyana Taylor) aus dem Gefängnis frei und kennt nur ein Ziel: Sie will verhindern, dass ihr Sohn Terry (mit sechs Jahren: Aaron Kingsley Adetola; mit 13 Jahren: Aven Courtney; mit 17 Jahren: Josiah Cross) in einem System aus Pflegeeltern und Sozialeinrichtungen verschluckt wird. Dafür nimmt Inez alles in Kauf, auch ihren Sohn zu entführen. Lange geht das gut, gemeinsam mit ihrem Freund Lucky (William Catlett) entsteht für eine gewisse Zeit sogar so etwas wie eine heile Familie. Doch das Damoklesschwert der Illegalität hängt über Inez und Terry – zumal es da noch ein Geheimnis gibt, das erst spät im Film gelüftet wird…

    Inez (Teyana Taylor) würde für ihren Sohn alles tun.

    Als der damalige Präsident Barack Obama, selbst ohne Vater aufgewachsen, 2008 in einer Rede das Problem der abwesenden Väter ansprach und Schwarze Männer zu größerer Verantwortung für die von ihnen in die Welt gesetzten Kinder aufforderte, wurde er deshalb von einigen Kommentator*innen des Rassismus beschuldigt. Dabei ist in der Soziologie unbestritten, dass das Aufwachsen ohne Vater und mit einer Mutter, die dann oft auch noch mehrere Jobs haben muss, um die Familie gerade so über die Runden zu bringen, einen gesellschaftlichen Aufstieg fast unmöglich (und ein Abdriften in Kriminalität und Drogensucht viel wahrscheinlicher) macht.

    Vor diesem Hintergrund spielt das Debüt der selbst aus dem Big Apple stammenden A.V. Rockwell, die damit auf Anhieb den prestigeträchtigen Preis für das beste Drama beim Sundance-Filmfestival abräumte – eine Auszeichnung, die zuletzt auch der spätere Oscar-Sieger „Coda“ gewann. Dass Rockwell selbst in der Metropole aufgewachsen ist, die Filme von Martin Scorsese und nicht zuletzt Spike Lee als Vorbilder nennt, spürt man vom ersten Moment: New York, seine Straßen, die langen Reihen von Appartementblocks, das vibrierende Leben, das sich gerade an heißen Sommertagen auf den Treppen vor den Häusern abspielt – all das ist hier nicht einfach nur Hintergrund, sondern schon fast ein eigener Charakter.

    Giulianis harte Hand

    Zwischen 1994 und 2006 spielt die Geschichte, der anbrechende Wandel wird durch TV- und Radioaufnahmen verdeutlicht, in denen etwa von Rudy Giulianis „Broken Windows“-Politik die Rede ist oder dem umstrittenen „Stop And Frisk“, das es Polizist*innen erlaubte, wegen eines bloßen Verdachtes Passant*innen nach Waffen oder Drogen zu durchsuchen – wobei für einen Verdacht oft schon ausreichte, dass man einer Minderheit angehörte.

    Auch Terry wird Opfer dieser Politik, aber Rockwell macht keine große Sache aus diesem Moment, streut ihn im Gegenteil ganz beiläufig in den Fluss der Erzählung ein – so selbstverständlich war und ist diese Form der Diskriminierung für Schwarze Menschen, vor allem Männer. Fast erwachsen ist Terry zu diesem Zeitpunkt schon – man hat sein Aufwachsen über Jahre verfolgt und dabei miterlebt, wie es seine Mutter geschafft hat, gegen alle Widerstände ein gutes Leben für ihn aufzubauen. Auch wenn die Dinge nicht optimal laufen, ihre Beziehung zu Lucky oft schwierig ist, scheint es zu klappen.

    Die Straßen New Yorks nehmen in „A Thousand And One“ den Status eines eigenen Charakters an.

    Dass „A Thousand And One“ trotzdem nicht in einer allzu naiven Story nach dem Motto „Wenn man sich nur bemüht, kann man alles erreichen“ mündet, liegt nicht zuletzt an der bemerkenswerten Performance von Teyana Taylor. Eigentlich ist Taylor Musikerin und Choreographin, spielt hier nach kleineren Parts in „Der Prinz aus Zamunda 2“ oder „Honey 4“ aber ihre erste Hauptrolle und das mit einer erstaunlichen Präsenz. Zwischen einer gewissen Straßenhärte und weichen Momenten bewegt sie sich, ihre wechselnden Frisuren (sie arbeitet als private Friseuse) markieren zusätzlich den Wandel der Zeit, ihr Sohn ist spürbar ihr ein und alles.

    Der Widersacher, dem sich Inez dabei gegenübersieht, ist nicht einfach ein untreuer oder abwesender Mann – das Problem sind auch nicht spezifisch die Folgen der Sklaverei oder einfach „die Weißen“, sondern das System, die Gesellschaft als Ganzes. Dass A.V. Rockwell ihre Protagonist*innen scheitern lässt, schmerzt am Ende sehr und war doch von Anfang an angelegt. Gerade dass die Schuld nicht hier oder da gesucht wird, nicht bei der Gentrifizierung der Stadt, nicht bei weißen Polizist*innen, nicht bei Schwarzen Männern, sondern einfach da ist, macht „A Thousand And One“ zu einem ehrlichen, differenzierten und deshalb so schonungslosen Blick auf die amerikanische Realität.

    Fazit: In ihrem bemerkenswerten Debütfilm „A Thousand And One“ schildert A.V. Rockwell das Schicksal einer Mutter und ihres Sohns vor dem Hintergrund des Wandels von New York ab Mitte der 90er Jahre. Ohne simple Schuldzuweisung entsteht dabei das Bild einer Gesellschaft, in der gerade Schwarze Frauen und ihre Kinder oft kaum eine Chance haben.

     

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