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    Der Gymnasiast
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Gymnasiast

    Die Lebenden reparieren

    Von Kamil Moll

    Am Anfang von Christophe Honorés „Der Gymnasiast“ spricht ein Teenager (Paul Kircher) direkt in die Kamera: „Mein Name ist Lucas, und mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden, dem ich mich nicht nähern kann, ohne gebissen zu werden.“ Zunächst kommt der Tod zu ihm als Vorahnung. Morgens fährt sein Vater (vom Regisseur selbst gespielt) ihn zum Internat in Chambéry, beim Überholmanöver in einer Kurve kommt das Auto von der Straße ab und in einem Feld zu stehen. Zwei Wochen später ist der Vater allein im Auto unterwegs, diesmal nachts. Auf gerader Fahrbahn gerät das Auto ins Schleudern und rammt einen entgegenkommenden Lastwagen. Lucas‘ Vater stirbt.

    Trauerarbeit, peinigender Verlust und plötzliche, alles lähmende Abwesenheit stehen oft im Zentrum der Filme von Honoré. Insbesondere erzählen sie aber auch davon, wie es möglich ist, trotzdem weiterzumachen. Dabei erweist sich Honoré seit nunmehr zwei Jahrzehnten als ein Meister im Ausprobieren und Durchmischen verschiedener Darstellungsarten. In seinem Frühwerk, „17 Fois Cécile Cassard“ und „Ma Mère - Meine Mutter“, beschäftigte er sich noch mit Figuren, die den Schmerz über den Tod von geliebten Menschen in sexueller Entgrenzung zu betäuben versuchen (was die Filme sogar in die Nähe der damals gerade hippen Genre-Bewegung New French Extremity um Grenzen ausreizende Werke wie „High Tension“ oder „Martyrs“ rückte).

    Nach dem Tod des Vaters fühlt sich Lucas (Paul Kircher) für seine Mutter verantwortlich …

    Chanson der Liebe“ war dann 2007 eine Art Zäsur: Ein bisexueller Beziehungsreigen, der durch das unerwartete Herzversagen einer der Figuren neu sortiert wird, wird von Honoré hier in Anlehnung an das Werk von Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg“) als ein emotional komplexes Musical inszeniert. Auch sein bis heute wohl populärstes Werk, „Sorry Angel“ von 2018, behandelt die Geschichte einer durch einen nahenden Aids-Tod gezeichneten Partnerschaft in den frühen 90er-Jahren auf eine zärtlich-leichte Art, die geprägt ist von einem unablässigen Strom an zeitgenössischer Popmusik. „Der Gymnasiast“ ist nun wiederum ein Film, der oftmals sein melodramatisches Potenzial in vollen Zügen auskostet, sich aber immer wieder einen leichteren Tonfall zurückerobern möchte.

    Bedeutsam bleibt für Honoré dabei die fundamentale Rolle, die Musik in menschlichen Beziehungen spielt: Sie wird gemeinsam gehört und gegenseitig vorgespielt, gesungen und weitergegeben. Bei der Planung des Begräbnisses wählt Lucas mit seiner Mutter (Juliette Binoche) und seinem Bruder (der wunderbare Vincent Lacoste, längst ein Wiedergänger in den Filmen Honorés) ein passendes Musikstück für die Trauerfeier aus. Die Mutter erinnert sich an ein gemeinsames Lieblingslied, „Electricity“ von OMD, doch es hat einen zu treibenden, elektronischen Beat, der womöglich nicht angemessen wäre. Später hört Lucas es noch einmal gemeinsam mit seinem Freund Oscar, bevor sie miteinander Sex haben. Nun passt der Song – auch das, sagt Honoré, ist eine Form von Erinnerung und Bewältigung.

    … zugleich muss er als Teenager an der Grenze zum Erwachsenendasein auch erst mal noch seinen eigenen Weg finden.

    Trauer als eine Abfolge von verschiedenen Phasen der An- und Entspannung wird dabei als spezifische Erfahrung eines Teenagers erzählt. In der Konzentration auf eine einzige Figur umgeht Honoré weitestgehend der Gefahr des Überkonstruierten, unter der seine Filme bisweilen leiden. Paul Kircher spielt diese Hauptrolle berückend mit fragiler Physis und unverbrüchlich neugierigem Blick. Das emotionale Durcheinander, die Gleichzeitigkeit von Empfindungen und neuen Erfahrungen eines Jugendlichen zeigt der Film immer wieder in parallelen, aufeinander bezogenen Bewegungen: Als er seinen Bruder in Paris besucht, verbringt Lucas einen Tag allein in der Stadt. In einer Kirche spricht er mit einem Priester über die Auferstehung Jesu von den Toten. Diese sei, so der Priester, wie etwas, das man zurückbekommt, was verloren gegangen ist. Lucas entgegnet: Wie etwas, das man vergessen hatte und an das man sich plötzlich wieder erinnert.

    In diese Szene zwischengeschnitten ist ein weiteres Treffen, das Lucas an diesem Tag hat: der Sex mit einem Mann, den er über die schwule Dating-App Grindr kennengelernt hat. So kann sich Lucas plötzlich wieder daran erinnern, dass er trotz aller Trauer immer noch einen Körper hat. Ästhetisch arbeitet Honoré in „Der Gymnasiast“ mit suggestiven, Stimmungen setzenden Farben. Viele der Szenen sind im violetten Schimmer von Dämmerstunden gedreht, im kalten, aber auch gleißenden Winterlicht von Paris und der französischen Provinz. Dadurch legt sich eine grundlegende Melancholie über die Geschichte. Betrauert wird dabei unausgesprochen auch etwas, das kein Tod sein mag, sich aber mitunter so anfühlen kann: das unausweichliche Ende einer unbeschwerten Jugend.

    Fazit: Christophe Honoré bleibt sich treu und zeigt in „Der Gymnasiast“ Trauerarbeit als spezifische Teenagererfahrung – sprich als emotionales Durcheinander, in der sich die gleichzeitigen Empfindungen, die der Tod des Vaters und der Aufbruch ins eigene Leben auslösen, auf komplex-spannende Weise überlagern.

    Wir haben „Der Gymnasiast“ bei der Französischen Filmwoche 2022 gesehen.

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