Der würdige Abschluss einer der besten Trilogien aller Zeiten!
Von Jochen WernerJe länger man sich etwas in Gedanken und Träumen ausmalt, so sagt die 15-jährige Johanne (Ella Øverbye) einmal, desto realistischer erscheint es einem – völlig unabhängig davon, wie unmöglich es in der wirklichen Welt sein mag. Johanne ist zum ersten Mal verliebt, und zwar in ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu), und nachdem sie eine ganze Weile stumm vor sich hinschwärmt (und -leidet), entschließt sie sich, aktiv zu werden. Stricken will sie lernen, obwohl sie sich im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen eigentlich überhaupt nicht dafür interessiert. Johanna jedoch hat Textilkunst studiert und erklärt sich gern bereit, Johanne darin zu unterrichten – auch jenseits der Unterrichtszeit, in ihrer Privatwohnung.
Was dann genau in dieser Wohnung geschieht, darüber lässt uns „Oslo-Stories: Träume“ weitgehend im Unklaren, denn sowohl Johanne als auch Regisseur Dag Johan Haugerud, der mit diesem Film seine Trilogie über „Sehnsucht/Träume/Liebe“ abschließt, entscheiden sich für eine andere, nämlich künstlerische Herangehensweise. Johanne schreibt einen Text über eine Liebesaffäre mit ihrer Lehrerin, inklusive freizügiger erotischer Details. Diesen behält sie zunächst für sich, aber mit der Zeit gewinnt dann doch das Bedürfnis die Oberhand, die eigenen Gefühle und die daraus geschöpfte Erzählung mit jemandem zu teilen. Folglich vertraut sie den Text ihrer Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) an – einerseits, weil diese „offener“ sei als Johannes Mutter Kristin (Ane Dahl Thorp), andererseits vielleicht auch, weil Karin selbst Schriftstellerin ist.
Denn auch wenn Johanne ihrer Oma einige Regeln im Umgang mit dem Manuskript und strenge Vertraulichkeit abverlangt, geschieht in dem Moment, in dem sie den persönlichen Text einer anderen Person zur Lektüre übergibt, eine entscheidende Transformation. Mit seiner ersten Leserin wird der private, tagebuchartige Text zur Literatur, und damit verändert sich auch sein Verhältnis zur Welt und zu den Ereignissen, die darin beschrieben werden. Dieser Prozess spiegelt sich am deutlichsten in der Reaktion von Mutter Kristin, der Karin das Buch dann doch weitergibt, und zwar durchaus mit der Idee, dass ihre Enkelin das Manuskript womöglich als Buch veröffentlichen könnte.
Kristins erste Reaktion ist impulsiv – ist ihre Tochter etwa ein Missbrauchsopfer? An dieser Stelle klingt auch kurz ein Rückbezug auf eine frühere Arbeit des Schriftstellers, Filmemachers und Bibliothekars Dag Johan Haugerud an, denn von einer verbotenen Affäre zwischen einer Lehrerin und einem (in diesem Fall männlichen) 15-jährigen Schüler hatte der bereits 2014 in seinem halblangen, für ein Theaterfestival inszenierten Monologfilm „Det er meg du vil ha“ – ich bin es, die du willst – erzählt. Der beruhte auf einer wahren Geschichte und setzte der Berichterstattung in der Klatschpresse eine weniger reißerische, aber offen subjektive Perspektive entgegen. „Träume“ funktioniert nun durchaus als eine Art Komplementärfilm zu dieser früheren Arbeit, fächert seine Perspektive auf das hier nur vielleicht Geschehene aber deutlich komplexer auf.
Denn „Träume“ ist in allererster Linie ein Film über den künstlerischen Schaffensprozess, und darüber, was es bedeutet, sein Persönlichstes in Werkform zu entäußern. Auch für die zunächst instinktiv besorgte Kristin verändert sich der Blick auf den zunächst schockierenden Text ihrer Tochter sofort, als sie von Karin angeregt wird, diesen als Literatur zu betrachten. Von der Missbrauchs-Beichte wird er instantan zum feministischen Statement – ein arg abrupter Perspektivwechsel, über den sich Karin nicht zu Unrecht ein wenig lustig macht. Auch andere Schlagworte des Literaturbetriebs werden kurz angerissen. Ob es nicht auch für andere junge Leserinnen wichtig sei, ein queeres Erwachen zu beschreiben? Eine Zuschreibung, das Johanne selbst wiederum irritiert – ob sie denn jetzt automatisch queer sei, nur weil sie in ihre Lehrerin verliebt ist, erwidert sie, und man kommt nicht umhin, an die heteroflexiblen Schornsteinfeger in „Sehnsucht“ zu denken, eine weitere der drei „Oslo-Stories“ in Haugeruds Trilogie.
Verbunden sind diese Filme jedoch nicht nur thematisch, sondern auch tiefergreifend, in ihrem Menschen- und Beziehungsbild nämlich. Als roter Faden durch Haugeruds Werk tritt immer mehr das Beharren darauf hervor, dass Kommunikation möglich ist und glücken kann. Haugeruds Protagonisten sind einander zugetan in einem Gestus der Liebe, und was in anderen Regisseurshänden für einen zerquälten Problemfilm genügen würde, funktioniert hier eher als Impuls, der ein fortwährendes zwischenmenschliches Aushandeln in Gang setzt.
Das bedeutet durchaus nicht, dass Haugeruds Protagonist*innen makellos sind, ganz im Gegenteil. Jeder hier verfolgt hier seine eigene Agenda, Menschen belügen sich, enttäuschen einander, entpuppen sich auch mal als völlig anders, komplexer und widersprüchlicher, als man sie zuvor sehen wollte. Aber in Haugeruds Filmen ist das alles kein Grund, miteinander zu brechen, sofern man sich in Liebe, Freundschaft oder jedenfalls Wohlwollen zugetan ist. Diese Filme scheinen vielmehr von einer durchaus tiefgreifenden, durch und durch humanistischen Einsicht in das ambivalente Wesen des Menschseins erfüllt. Und trotzdem, oder gerade deshalb, von einer tiefen Liebe zu diesen Menschen erfüllt.
Fazit: Mit „Oslo-Stories: Träume“ schließt der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud seine (in den deutschen Kinos in veränderter Reihenfolge veröffentlichte) Trilogie über „Sehnsucht/Träume/Liebe“ würdig ab – und etabliert sich endgültig als einer der aufregendsten Filmemacher des gegenwärtigen Weltkinos. Anhand der Geschichte einer möglichen Liebesaffäre zwischen einer 15-Jährigen und ihrer Lehrerin entfaltet Haugerud eine komplexe, immer wieder auch bewusst ambivalente Reflexion über das Leben und die Kunst, Realität und Fiktion, das Persönliche und das Entäußerte. „Träume“ ist ein schillernder, berührender Film, dem das Kunststück gelingt, einerseits stets zugänglich und unkompliziert zu bleiben – und sich doch bis zum Ende ein gewisses Geheimnis zu bewahren. Das ist großes Kino!
Wir haben „Oslo-Stories: Träume“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.