Postpartaler Rock 'n' Roll
Von Christoph PetersenNATÜRLICH gibt es auf den einschlägigen Fanfiction-Portalen auch Geschichten, in denen „Panem“-Amazone Katniss Everdeen und „Twilight“-Glitzervampir Edward Cullen romantisch bis erotisch miteinander anbandeln. Aber so dauergeil und animalisch, wie Jennifer Lawrence in „Die, My Love“ über Robert Pattinson herfällt, haben es sich die Young-Adult-Fanautor*innen sicher nicht vorgestellt. Wie schon in Darren Arronfskys Tabubrecher „mother!“ verliert die Oscargewinnerin (für „Silver Linings“) mit dem Beginn der Mutterschaft auch diesmal wieder jeden psychischen Halt und jede schauspielerische Zurückhaltung. Nur bedarf es dafür diesmal keiner surrealen Horroreinschübe, sondern „lediglich“ einer postpartalen Störung.
„A Beautiful Day“-Regisseurin Lynne Ramsay liefert einen formal wie thematisch hemmungslos-radikalen Film, der den Ausnahmezustand seiner Protagonistin gar nicht erst zu erklären versucht, sondern uns stattdessen mit ihr gemeinsam in diesen hinabtaumeln lässt. Trotz makaber-schwarzhumoriger Spitzen ist es vor allem eine schlauchende, die Empathie herausfordernde, womöglich sogar überfordernde Erfahrung, sich „Die, My Love“ anzusehen. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, ob es dieses zweistündige Dauerfeuer für die Augen, Ohren und Seele wert war – nur Jennifer Lawrence' völlig losgelöste, 100 Prozent uneitle Performance ist über jeden Zweifel erhaben.
„Die, My Love“ beginnt mit einer langen, starren Einstellung, die man so eher in einem Sozialdrama von Mike Leigh erwarten würde: Wir sehen durch die Küche und das Wohnzimmer hindurch bis zur Verandatür. Die Tapeten sind abgeranzt, der Boden ist verdreckt. Aber wir hören draußen ein freudiges Paar – es sind Laura (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson), die hier einziehen werden. Aber womöglich hätte ihnen zu denken geben sollen, dass sie das Haus nur bekommen, weil sich Jacksons Onkel hier mit einem Schuss in seinen Arsch selbst das Leben genommen hat. Und tatsächlich: Es ist der letzte derart stille, statische und unbeschwert-glückliche Moment im gesamten Film.
Bereits mit dem ersten Schnitt setzt ein Rockstück ein, das einem in einem vernünftigen Kino regelrecht die Ohren wegbläst. In stakkatoartigen Bildfetzen sehen wir, wie die beiden Stars wild auf dem Küchenboden herumvögeln, immer wieder unterbrochen von einer prophetischen Kamerafahrt durch einen Wald, in dem die gewaltigen Bäume bereits allesamt lichterloh in Flammen stehen. Im einengenden 4:3-Format gedreht, entwickelt sich das isolierte Häuschen immer mehr zu einer persönlichen Hölle – für die nach der Geburt ihres Sohnes gelangweilte, notgeile, Gewaltfantasien und Angstzustände entwickelnde, (selbst-)zerstörerische Laura, aber auch für den mit der Situation völlig überforderten Jackson…
Nachdem er in „Mickey 17“ gerade erst 18 Rollen auf einmal verkörpert hat, ist es völlig okay, dass sich Robert Pattinson diesmal deutlich zurücknimmt: Als Jackson muss er schließlich einfach nur hilflos (und auch ein bisschen deppert) mit anschauen, was Jennifer Lawrence hier für eine krasse One-Woman-Show abzieht. Sie krabbelt an ihren Mann heran wie eine Löwin auf der (Sex-)Pirsch; sie masturbiert im hohen Gras vor dem Haus, mit einem Messer in der Hand, während sie Jackson mit dem Baby beobachtet; sie trifft sich nachts mit einem mysteriösen Motorradfahrer (Lakeith Stanfield); sie springt durch die Scheibe einer geschlossenen Verandatür und aus dem fahrenden Auto.
Eine Szene auf einem Kindergeburtstag wirkt sogar fast so, als wäre Lawrence einfach nur mit dem Auftrag ans Set geschickt worden, möglichst heftige Fremdscham-Momente zu kreieren – und es ist ihrem starken komödiantischen Timing zu verdanken, dass man trotz aller Schmerzen auch immer wieder über die bloße Absurdität ihrer Ausraster lachen muss. Ihr überdrehtes Verhalten lässt sich nicht lange allein auf die Langeweile, die Isolation und Jacksons Seitensprünge schieben. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht – und das lässt uns Lynne Ramsay buchstäblich am eigenen Leibe spüren: Nicht nur die zentrale Performance, auch die audiovisuelle Gestaltung ist eine einzige Tour de Force.
„Die, My Love“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Ariana Harwicz, der vor allem aus dem inneren Monolog der zwischen Momenten des Wahnsinns und der Klarheit schwankenden Ich-Erzählerin besteht. Anders als etwa Kristen Stewart in ihrem einen Tag vor „Die, My Love“ in Cannes uraufgeführtem Regiedebüt „The Chronology Of Water“, in dem sie die fragmentierte Sprache der Profan-Poetin Lidia Yuknavitch in entsprechende filmische Stilmittel übersetzt, verzichtet Ramsay darauf, die Form der Vorlage direkt zu adaptieren. Stattdessen strebt sie mit anderen krassen audiovisuellen Mitteln nach demselben Maß an verstörender Intensität.
Sei es das übermäßig lautgedrehte Summen einer Fliege, das Kreischen des Babys, das schmerzerfüllte Jaulen eines Hundes – abseits der Songs, die nur kurze Augenblicke der Befreiung andeuten, fühlt sich quasi die ganze Tonspur wie ein einziger ausgedehnter Angriff auf unsere Sinne an. Selbst die sternenbehangenen Nachtaufnahmen, mit brodelnden Wolkenhimmeln wie aus einem Gemälde von William Turner, sind nicht einfach nur wunderschön, sondern strahlen immer auch etwas Verstörendes und Gefährliches aus. Lynne Ramsay lässt ihre Protagonistin nicht von der Schippe – warum sollte sie es dann mit ihrem Publikum anders machen?
Fazit: Lynne Ramsay lässt ihren Star Jennifer Lawrence als dauergeile, gewaltfantasierende und (selbst-)zerstörerische Jungmutter völlig freidrehen – und Robert Pattinson kann nur hilflos und überfordert dabei zusehen. „Die, My Love“ ist ein Film wie eine sich auftürmende Panikattacke, wie ein zweistündiges Dröhnen im Kopf – die Frage ist nur: Ist das viel Lärm um viel oder viel Lärm um nichts?