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    Skinamarink
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Skinamarink

    Ein viral gegangener Albtraum

    Von Kamil Moll

    Auf Bodenhöhe blickt die Kamera in einen in Dunkelheit gehüllten Flur. Im Vordergrund überzieht ein dünner Lichtstreifen den Teppich, weiter hinten ist eine Türöffnung erkennbar. Zwei kleine Kinder öffnen den Türspalt ein wenig, wodurch das Bild etwas heller wird, bevor sie sich auf den Boden des Flurs setzen. Aus der Ferne ist der Klang eines Fernsehers hörbar. Die Kinder rufen nach ihrem Vater, aber niemand antwortet. Kevin (Lucas Paul) und Kaylee (Dali Rose Tetreault), vier und sechs Jahre alt, sind allein zu Hause. Dunkle Räume und fernes, gedimmtes Licht, undeutliche Geräusche und nur in Umrissen oder als Ausschnitt erkennbare Körper, Froschperspektive, ein so unbestimmtes wie beunruhigendes Gefühl des kindlichen Verlassenseins:

    Die ersten Minuten von Kyle Edward Balls „Skinamarink“, der mit einem Kleinstbudget von 15.000 Dollar gedreht wurde, dann aber in den USA durch TikTok befeuert zum viralen Horror-Hit avancierte, umfassen bereits die ganze Geschichte und Stimmung des Films. Der Erfolg erstaunt trotz des maßgeblich experimentellen Charakter des Films keineswegs, da er an elementare kindliche Urängste in einer audiovisuellen Intensität rührt, wie sie momentan seinesgleichen sucht. Das erst nur erahnte und später umso eindringlicher bestätigte Grauen entwickelt sich dabei so unmerklich wie meisterlich gekonnt.

    Plötzlich allein! Die Eltern sind schon weg – und nach verschwinden auch noch alle Türen und sonstigen Wege zur Außenwelt…

    Zunächst beginnen Objekte im Haus zu verschwinden: eine Tür zu einem Zimmer, das nun nicht mehr betreten werden kann, Fenster und Lampen, die Toilette im Untergeschoss. Ein Stuhl hängt verdreht von der Decke, eine Puppe wie hingenagelt an der Wand. Selbst das auf dem Boden verteilte und vergessene Spielzeug – Legosteine, VHS-Kassetten, ein Spielzeugtelefon und Matchbox-Autos – wirkt seltsam belebt. Dann beginnt eine verzerrte, kaum vernehmbare Stimme, zu Kevin und Kaylee zu sprechen – sie lockt die Kinder, in die Dunkelheit zu blicken, und beschwört sie dann, sich stattdessen die Augen mit einem Küchenmesser auszustechen.

    War das bläulich flimmernde Licht des Fernsehers in Tobe Hoopers „Poltergeist“, der als Hauptwerk des modernen Spukhaus-Horrorfilms in vielfacher Hinsicht ein Vorbild für „Skinamarink“ fungiert, noch eine Einlasspforte für das Übersinnliche und Dämonische, so wird es hier zur elektronischen Feuerstelle, der einzigen Lichtquelle im Haus, an die sich die Kinder klammern können. Gleichwohl bekommt selbst das TV-Programm etwas albtraumhaft Verschobenes: Die übersteigerte Fröhlichkeit und Musikalität der alten Cartoons, der Soundtrack den Film die meiste Zeit über dominieren, erzeugen ein so unbestimmbar nostalgisches wie darin beunruhigendes Gefühl. Bilder und Töne, die bekannt scheinen, obwohl sie es nicht sein können. Einen ähnlichen Effekt besitzt auch bereits der Titel des Films, benannt nach einem insbesondere in Nordamerika jahrzehntelang populären Lied für Kinder im Vorschulalter, das einem auch dann seltsam vertraut vorkommen kann, wenn man es wahrscheinlich noch nie zuvor gehört hat.

    Die Puppe liegt plötzlich nicht mehr im Spielzeugschublade, sondern klebt wie angenagelt an der Wand.

    „Skinamarink“ ist zwar Balls erster Langfilm, in gewisser Weise wirkt er aber wie eine formvollendete Summe seines bisherigen, kleinteiligeren Schaffens: Seit 2017 dreht der Regisseur für den YouTube-Channel „Bitesized Nightmares“ kurze Videos, in denen er suggestiv Albträume verfilmt, die ihm seine Follower beschrieben haben. Damit ist er auch Teil einer in Deutschland kaum bekannten, aus Cinephilen und Low-Budget-Filemachern bestehenden Online-Community, die sich bei Reddit in Gruppen mit so sprechenden Namen wie „r/weirdcore“ und „r/liminalspaces“ austauscht. Fehlende finanzielle Mittel und rudimentäre technische Ausrüstung sind hier wie meist bei Genre-Arbeiten mehr Segen als Fluch. Durch die Arbeit an Kurzfilmen, in denen er mehr andeuten musste, als er zeigen konnte, erwarb Ball so eine handwerkliche Könnerschaft darin, bei schwachen Lichtverhältnissen und sogar in völliger Dunkelheit zu drehen, wodurch „Skinamarink“ im aktuellen, das Verborgene und Uneindeutige kaum kennenden Horrorkino komplett einzigartig ist.

    Undurchdringlich, geradezu traumhaft entrückt wird der Film hierbei auch durch die ausführliche Postproduktion: Eine gewaltige Schicht an digital hinzugefügter Filmkörnung und enervierendes statisches Rauschen und Klicken verleihen der Schwärze und Stille der Räume ein merkwürdiges Eigenleben. Auch die Dialoge der Kinder, deren Stimmen im Soundmix des Films stets nicht ganz nah und nicht ganz fern klingen, wodurch meistens unbestimmbar bleibt, wo im Haus sie sich gerade befinden, entstanden in der Nachbearbeitung. Erst ganz zum Schluss wechselt der Film auch zu einer expliziteren Form von Body Horror, für die Ball nur wenige, aber dafür umso effektivere Bilder und Töne findet. In diesen scheint noch deutlicher durch, was zuvor auch bereits klar erkennbar war: Mit „Skinamarink“ empfiehlt sich Kyle Edward Ball als einer der momentan interessantesten und talentiertesten Genre-Filmemacher in Zukunft auch für wesentlich großformatigere Horrorstoffe.

    Fazit: In „Skinamarink“ erzählt Kyle Edward Ball zwischen Horror- und Experimentalfilm von den Ängsten zweier verlassener Kinder in der nächtlichen Dunkelheit ihres Hauses – und erweist sich mit diesem Debüt als eine vielversprechende Hoffnung für das aktuelle Genre-Kino.

     

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