Die österreichische Antwort auf "Midsommar"
Von Kamil Moll„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, lautet ein nigerianisches Sprichwort, das in Andreas Prochaskas „Welcome Home Baby“ zitiert wird. Womöglich braucht es auch ein ganzes Dorf, um ein Kind weggeben zu lassen: Mit Anfang 30 erfährt Judith (Julia Franz Richter), eine Notärztin in Berlin, dass sie ursprünglich aus einem kleinen Kaff bei Wien stammt. Als sie vier Jahre alt war, gaben sie ihre Eltern zur Adoption frei, nun ist ihr leiblicher Vater verstorben und hat ihr sein Haus vermacht, das zugleich seine Praxis war. Denn auch Doktor Eduard Sarsteiner war in seiner Gemeinde ein praktizierender Allgemeinarzt.
Zusammen mit ihrem Partner Ryan (Reinout Scholten van Aschat) fährt Judith zurück in den Ort ihrer frühen Kindheit, an den sie keine Erinnerungen mehr hat und an den sie auch in Zukunft nichts knüpfen möchte: Eine Unterkunft buchen die beiden in einem Gasthof, das vererbte Haus soll lediglich besichtigt und alsbald verkauft werden. Doch als sie vor der Pension stehen, scheint diese geschlossen und ihre Reservierung ist plötzlich online storniert. So ist Judith gezwungen, im Anwesen ihrer Familie zu übernachten. Dort wird sie bereits von einer Haushälterin, die aus dem Haus nicht ausgezogen zu sein scheint und sich selbst als „Tante Paula“ (Gerti Drassl) vorstellt, begrüßt: „Du kannst dich sicher nicht an mich erinnern“, sagt sie zu ihr, aber sie selbst erkenne das kleine Mädchen von früher sofort wieder, als sei es nie weg gewesen.
Von Anfang an wird so eine hintergründige Vertrautheit zwischen dem Dorf und der Wiederkehrerin forciert, die Judith von ihrer Seite jedoch nicht im Geringsten zu empfinden scheint. Eltern geben ihre Kinder weg, wenn diese sonst in prekären Verhältnissen aufwachsen müssten oder schwere Krankheit das Familienleben erschweren würde, aber die Lebensumstände der Sarsteiners scheinen die allerbesten gewesen zu sein. Jeder im Dorf erinnert sich gerne an Judith und scheint bestens über ihr Leben in Berlin informiert zu sein. Bereits am nächsten Morgen steht jemand vor ihrer Tür und bittet um ärztliche Hilfe. Und auch die anderen Bewohner*innen des Dorfes hegen keine Zweifel daran, dass die zurückgekehrte Tochter die Hauspraxis des Vaters übernehmen wird, nennen sie alsbald leutselig und vertrauensvoll „Frau Doktor“.
Judiths Zukunft scheint sich zunehmend einer kaum unterbrochenen Fortsetzung ihrer Vergangenheit anzunähern. Das Kinderzimmer im Haus ihrer Eltern könnte früher ihr eigenes gewesen sein, vielleicht wurde es aber auch schon vorausschauend eingerichtet. Denn Judith scheint ein Kind zu erwarten – und warum sie den nur allzu offensichtlich unheilbringenden Ort nicht einfach wieder verlässt, weiß sie selbst bald auch nicht mehr so genau. Ihre Wahrnehmung von Zeit verschwimmt: Immer wieder erwacht sie aus Tagträumen gerissen knietief im Wasser eines Weihers oder auf dem samtigen Moos eines dunklen Waldes…
Wer jemals als junger Erwachsener aus der Provinz aufgebrochen oder geradezu geflohen ist, kennt nur allzu gut die unbestimmte Angst, dass der Ort der eigenen Herkunft einen früher oder später wieder heimsuchen und zurückziehen könnte. Diese Furcht nimmt vielleicht gelegentlich in Träumen Gestalt an, sie ist so aber auch ein dankbares Thema für Horrorfilme. Mit „Welcome Home Baby“ kehrt Regisseur Andreas Prochaska zehn Jahre nach dem so sinistren wie stilsicheren Bergwestern „Das finstere Tal“, einer Adaption des Romans von Thomas Willmann, ins Kino zurück.
Seine bisherige Filmografie durchzieht eine Vorliebe für verschiedene Genre-Reize, die sich selten in jenen misanthropischen Versuchungsanordnungen suhlen, wie man sie gemeinhin sonst mit populären österreichischen Filmemachern von Michael Haneke („Funny Games“) bis Jessica Hausner („Club Zero“) in Verbindung bringt. Eher sucht er in seinen Filmen Anschluss an gängige Spielweisen und Traditionen einer internationalen Genre-Produktion, wie sie in Europa mittlerweile eher selten geworden ist.
Wo sein Durchbruchsfilm „In 3 Tagen bist du tot“ sowie dessen nicht minder gelungene Fortsetzung einst die Konventionen von Teen-Slasher und Backwoods-Horror auf der popkulturellen Höhe der mittleren Nullerjahre bedienten, so lässt sich in „Welcome Home Baby“ unschwer der Einfluss ambitionierter amerikanischer Horrorfilme, wie sie seit einigen Jahren vor allem von A24 („Hereditary“, „Men“) produziert werden, erkennen:
Die tribalistischen Abgründe der Dorfgemeinde verweisen auch visuell auf Filme wie „Midsommar“, der eher strenge, konzentrierte Bildaufbau hingegen an das Werk von Osgood Perkins („Longlegs“). Und doch erschöpft sich der Film keineswegs in dieser bemühten Nähe: Prochaska weiß stets, wann es auch mal gut ist mit Metaphern-schwerem Hintersinn. In seiner unbedingten, genüsslichen Betonung von Affekten ist „Welcome Home Baby“ so in erster Linie einfach ein klassischer, wunderbar wirksam inszenierter Schocker.
Fazit: In „Welcome Home Baby“ erzählt Andreas Prochaska vom Horror, der in der eigenen Herkunft lauern kann. Auch wenn der Film sich bisweilen an aktuellere, allzu bedeutungsschwere Genre-Produktionen anzulehnen scheint, ist er im Herzen ganz klassisch und stilsicher auf Wirkung und Affekt hin inszeniert.
Wir haben „Welcome Home Baby“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm der Sektion Panorama gezeigt wurde.