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    Welt am Draht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Welt am Draht
    Von Carsten Baumgardt

    1999 brachten die Wachowski-Geschwister die Filmwelt mit ihrem visuell überbordenden Virtuelle-Welt-Thriller „Matrix" ins Wanken und lösten einen Hype aus, der zwei weniger euphorisch rezipierte Fortsetzungen nach sich zog. Mit nicht weniger Getöse wurde Christopher Nolans ebenso grandioser Sci-Fi-Thriller „Inception" anno 2010 gefeiert, aber auch geringer budgetierte Vertreter wie David Cronenbergs „eXistenZ" oder Alex Proyas‘ „Dark City" erlangten bei Liebhabern des Genres Kultstatus. Begründet wurde das Motiv virtueller Filmrealität von keinem dieser Filmemacher. Den Grundstein für das Subgenre legte bereits 1973 ausgerechnet das deutsche Regie-Enfant-Terrible Rainer Werner Fassbinder, der mit seinem – zu Unrecht fast in Vergessenheit geratenen – visionären, fast dreieinhalbstündigen TV-Zweiteiler „Welt am Draht" Themen und Inhalte vorweg nahm.

    Die 1970er Jahre: Nach dem so plötzlichen wir überraschenden Tod von Professor Henry Vollmer (Adrian Hoven) fällt dessen Assistent am Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung, Dr. Fred Stiller (Klaus Löwitsch), die Karriereleiter hinauf und nimmt den Chef-Posten ein. Vollmer schien dem Wahnsinn verfallen, redete vor seinem Ableben wirres Zeug von einer unfassbaren Entdeckung. Stiller will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, zumal der Sicherheitschef des Instituts, Günther Lause (Ivan Desny), mysteriöse Andeutungen zu Vollmers Tod macht. Doch ehe Lause auspacken kann, verschwindet er spurlos. Schlimmer noch: Außer Stiller scheint ihn niemand zu kennen oder sich auch nur an ihn zu erinnern. Vollmer leitete ein Projekt, in dem ein Supercomputer namens Simularcron-1 in der Lage war, das virtuelle Leben in einer Kleinstadt zu simulieren. Stiller klinkt sich ein in die virtuelle, aber real wirkende Welt und sucht dort nach Anhaltspunkten für Vollmers rätselhaften Tod. Doch je tiefer er gräbt, desto größer wird der Widerstand, der ihm entgegengebracht wird, auch von seinem Vorgesetzten Herbert Siskins (Karl-Heinz Vosgerau), der gute Kontakte zur Industrie unterhält...

    „Welt am Draht" ist eine Besonderheit im Schaffen von Regie-Kraftwerk Rainer Werner Fassbinder, der zwischen 1969 und 1982 bis zu seinem Tod im Alter von nur 37 Jahren mehr als 30 Spielfilme, zahlreiche Theater-Inszenierungen, die 13-teilige epische Fernsehserie „Berlin Alexanderplatz" und einige Fernsehfilme gestemmt hat. „Welt am Draht" war bis zur Neuaufführung bei der Berlinale fast aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht und nahm in Fassbinders (Nach-)Wirken bis dahin keine sonderlich exponierte Stellung ein. Nach der Erstaufführung im deutschen Fernsehen am 14. und 16. Oktober 1973 wurde der epochale TV-Zweiteiler nur noch selten öffentlich gezeigt. Während sich Meisterwerke wie „Angst essen Seele auf", „Lili Marleen", „Martha", „Die Ehe der Maria Braun" oder „Lola" aus Fassbinders Nachlass ins kulturhistorische Gedächtnis gebrannt haben, fristete „Welt am Draht" ein Nischendasein.

    Das jedoch völlig zu Unrecht, denn sein visionärer Blick auf das Kommende ist so viel tiefsinniger als der der US-amerikanischen Genre-Konkurrenz. Seine Verfilmung des Science-Fiction-Romans „Simulacron-3" von Daniel F. Galouye aus dem Jahr 1964 orientiert sich, obwohl für das Fernsehen und auf 16 Millimeter gedreht, eindeutig am Kino, wofür allein schon Michael Ballhaus‘ brillante Bilder sorgen. Kühl fängt der legendärste aller deutschen Kameramänner („GoodFellas", „Departed: Unter Feinden") das Szenario ein, filmt oft von einer untersichtigen Perspektive durch endlose Flure und Gänge, setzt seine berühmten 360-Grad-Schwenks ein und reflektiert immer wieder in Spiegeln, die den ganzen Film motivisch durchziehen.

    Der Geniestreich: Fassbinder verortet seine bittere Dystopie nur wenige Jahre nach der damaligen Gegenwart der früheren 1970er Jahre und variiert die Szenerie nur sehr dezent. Und selbst seine virtuelle Realität ist nur durch Nuancen im Schauspiel und Setdesign von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Die wahren Abgründe eröffnen sich in den Gedanken des Betrachters. In einer emotional schockierenden Szene fragt die Hauptfigur Stiller: „Wo ist oben?" Welche Realität ist die ursprüngliche und welche die simulierte? Wer sagt uns eigentlich, dass unsere Welt die einzig reale ist? Ist der Mensch überhaupt in der Lage, seinen Platz im Gesamtgefüge des Universums „realistisch" einzuschätzen? Virtuos dringt Fassbinder immer tiefer ins Labyrinth der Realitäten ein, nimmt zwischendurch Anleihen in der Philosophie bei Platon und Aristoteles oder zitiert ein Paradoxon um den griechisch-mythologischen Heros Achilles und dessen Wettrennen gegen die Schildkröte.

    Der Augenmerk von Fassbinders bewusst steriler und dabei ungeheuer atmosphärischer, sogartiger Inszenierung liegt auf dem fein verwobenen Handlungskonstrukt, weniger auf der Action, die im zweiten Teil zumindest in Ansätzen vertreten ist, wenn Klaus Löwitschs Fred Stiller auf der Flucht vor der ganzen Welt in die Enge getrieben wird. Daneben treibt den Film die Thrillergeschichte um die große Intrige und Verschwörung voran, in dessen Fallstricken sich Stiller verheddert hat. Geschickt verteilt Fassbinder kleine Hinweise, die als Anker, ausgeworfen in den Wirklichkeitsebenen, gedeutet werden können. „Es könnte unendlich abwärts." Ein eiskalter Satz, der bis ins Mark trifft. Visuell lotete das Christopher Nolan in „Inception" eindrucksvoll aus, Fassbinder tritt die Reise im Kopf an, denn auf Spezialeffekte verzichtet der Regisseur in seinem Opus fast völlig – mit Ausnahme einer Explosion im Finale.

    Fassbinder setzt aber natürlich nicht nur inhaltlich ganz eigene Akzente. Auch bei der Besetzung findet er eine nahezu perfekte Mischung: Zusätzlich zu den Mitgliedern seiner berühmten „Schauspielfamilie", mit denen er regelmäßig arbeitete (Klaus Löwitsch, Wolfgang Schenck, Günter Lamprecht, Ulli Lommel, Kurt Raab sowie Margit Carstensen und Barbara Valentin), engagierte er für die Nebenrollen Altstars der 50er und 60er Jahre – Leute wie Adrian Hoven, Ivan Desny, Karl-Heinz Vosgerau, Christine Kaufmann, Eddie Constantine oder Walter Sedlmayr, die immer wieder kleine Glanzpunkte setzen. Alles überragend ist aber Löwitsch als tougher Held der Geschichte. Von ständigen Kopfschmerzen geplagt, regelmäßig zu viel trinkend und rauchend, droht er dem Wahnsinn zu verfallen, während er verzweifelt versucht, das Komplott aufzudecken. Was hat jemand zu verlieren, wenn er sich mit dem Tod abgefunden hat? Und deshalb spielt Löwitsch von Minute zu Minute entfesselter auf, während alle um ihn herum starr und künstlich agieren. Der erzielte Effekt jagt einem einen Schauer über den Rücken. Wo fängt Paranoia an? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage dringen Fassbinder und seine Darsteller tief in das Innere der Figuren vor.

    Fassbinders überragende Fähigkeit der Anpassung funktioniert auch bei „Welt am Draht". Er assimiliert den Grundstoff, so dass dieser noch sichtbar bleibt, stülpt ihm aber seine so anarchistisch-sperrige Arthouse-Inszenierung über, um etwas stilistisch Einzigartiges zu schaffen. So wie er es vorher mit amerikanischen Gangsterfilmen („Liebe ist kalter als der Tod"), Dramen von Douglas Sirk („Der Handler der vier Jahreszeiten") oder später dem großen deutschen Nachkriegskino („Lili Marleen", „Lola") gemacht hat, dringt er in das Sci-Fi-Genre ein, weidet es aus und staffiert die Versatzstücke in seinem ureigenen Gewand kongenial aus. Mit einer für seine Verhältnisse langen Drehzeit von 44 Tagen in Paris, München und dem Rheinland - und für heute lächerliche 950.000 Mark - realisierte der als sparsame gerühmte Fassbinder seine Vision. Er drehte stets mit sehr wenigen, oft nur einer Einstellung, weil er genau wusste, was er wollte.

    Mit seinem so visionären wie verstörenden Zukunftsbild „Welt am Draht" nimmt Rainer Werner Fassbinder 26 Jahre vor „Matrix" einen der größten Klassiker des modernen Science-Fiction-Kinos vorweg. Was ist die Idee von einer Idee einer Idee? Warum ist Kaffee braun? Oder ist er vielleicht lila und eine Ebene weiter oben lachen sich die Strippenzieher scheckig, weil wir braunen Kaffee zu trinken glauben? Und viel wichtiger: Wo ist oben? „Welt am Draht" muss man gesehen haben, nicht nur – aber vor allem – als Verfechter der thematisch nicht wirklich revolutionären Wachowski-Revolution „Matrix".

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