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    Let Me In
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Let Me In
    Von Florian Schulz

    Mit „So finster die Nacht" schuf Tomas Alfredson nach einer Romanvorlage von John Ajvide Lindqvist ein Kleinod des Horror-Genres. Sein Film verquickte das Vampirmotiv mit einer sensiblen Coming-of-Age-Geschichte und wurde von Kritikern wie Publikum gleichermaßen begeistert aufgenommen. Dem Schweden gelang es vortrefflich, die desolate Seelenlandschaft seiner beiden Protagonisten als eigentlichen Quell des Horrors zu etablieren. Ähnlich wie Chan-Wook Parks „Durst" bewegte sich „So finster die Nacht" damit abseits vielfach ausgetretener Genre-Pfade. Ein stückweit ist es sicher dieser unkonventionellen Gangart und dem damit verbundenen Erfolg zuzuschreiben, dass mit „Let Me In" nun bereits ein erstes Remake vorliegt. Regisseur Matt Reeves musste dafür Schelte einstecken, denn erstens kann sich eine zeitlich so unmittelbare Neuverfilmung kaum über einen Stilwandel des Kinos legitimieren; und zweitens muss sich Reeves im Zuge des „Twilight"-Booms des Verdachts erwehren, lediglich ein großes Stück vom monetären Vampirfilm-Kuchen abhaben zu wollen. Der „Cloverfield"-Regisseur entkräftet diese Verdachtsmomente mühelos: „Let Me In" ist ebenso liebevolle Hommage, wie auch eigenständiger Film.

    Los Alamos, New Mexico: Eine Reihe unerklärlicher Gräueltaten hält die Behörden auf Trab. Gerade erst wurde ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter Mann in ein Krankenhaus eingeliefert. Dessen Verbindung mit den grausamen Morden bleibt ungeklärt. Einige Tage zuvor: Der schüchterne 12-jährige Owen (Kodi Smit-McPhee) freundet sich mit der in der Nachbarschaft wohnenden Abby (Chloe Moretz) an. Während das Mädchen sich von Beginn an sonderbar reserviert zeigt, fühlt sich der von seinen Mitschülern ausgestoßene Heranwachsende immer mehr zu ihr hingezogen. Aus den spärlichen Treffen entwickelt sich bald eine sensible Freundschaft auf der Schwelle zur ersten Jugendliebe. Owen ahnt indes nicht, dass hinter der Fassade seiner neuen Freundin eine vampirische Natur lauert, die ihr zartes Band schon bald vor die Zerreißprobe stellt...

    Matt Reeves löst sich ein stückweit vom psychologischen Grundtenor der Vorlage, indem er der Erzählung einen zeitgeschichtlichen Hintergrund verpasst. Nach dem Scheitern der Genfer Abrüstungsverhandlungen wogt 1982 eine neue Spiritualität durch die Vereinigten Staaten, befeuert durch einen bekennenden Presbyterianer an der Regierungsspitze. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges soll die Hinkehr zu Gott moralische Einheit stiften. Diesen gesellschaftspolitischen Kontext setzt Reeves durch beschwörende Radioansprachen Ronald Reagans, appellartige Lobpreisungen in den Klassenräumen und die alltägliche Omnipräsenz religiöser Symbole in Szene. Weniger die Bedürfnisse der nachwachsenden Generation, sondern abstrakte Prinzipien der Nächstenliebe beschäftigen die Öffentlichkeit. Stilistisch ergründet Reeves die daraus resultierende Doppelmoral mit indirekten Einstellungen und dezentem Weichzeichner-Einsatz. Das Resultat ist eine gespenstisch-melancholische Tristesse im Stile der amerikanischen Gothik, in der warme Lichtpunkte immer wieder als emotionale Fluchtpunkte wirken.

    Die im Horrorgenre omnipräsenten Kategorien von Gut und Böse relativiert der Regisseur dabei konsequent. Während die Behörden das rituelle Wirken eines Satanskultes hinter den grausamen Morden vermuten, geht Owens zartes Anbandeln mit Abby mehr und mehr mit dem Verlust kindlicher Kategorien einher. Kann ein Mensch böse sein? Mit dieser elementaren moralischen Frage wendet sich der 12-Jährige hilfesuchend an seinen getrennt lebenden Vater, der ihm daraufhin den Rat gibt, sich die religiösen Gespinste seiner Mutter aus dem Kopf zu schlagen. Die Emanzipation vom elterlichen Diktum gelingt Owen eben gerade nicht durch autoritäre Weisung, sondern über die Beziehung zu Abby. Es ist nur folgerichtig, daraus ein tragisches Steigerungsverhältnis und kein Happy End, das in der gelungenen Resozialisierung der Protagonisten gipfelt, abzuleiten.

    Die intime Beziehung der beiden Außenseiter wird von den Jungdarstellern Chloe Moretz und Kodi Smit-McPhee dabei eindrücklich interpretiert. Beide meistern den Wechsel zwischen grotesken Schockelementen und einfühlsamen Passagen mit Leichtigkeit. Zwischen triebhaftem Horror und kindlicher Introvertiertheit erzeugen sie jene beträchtliche Bandbreite an Emotionen, die den Film trägt. Mit Richard Jenkins konnte Reeves außerdem ein prominentes Gesicht für „Let Me In" gewinnen. Der für „Ein Sommer in New York - The Visitor" ausgezeichnete Charakterdarsteller mimt den namenlosen Begleiter Abby mit melancholischer Mine. Seine Figur wird dabei, anders als in Alfredsons Interpretation, biografisch verortet. Zwar engt Reeves damit den Interpretationsspielraum ein, schlüssig ist diese explizitere Ausdeutung aber allemal: das Verantwortungsdilemma der Hauptfiguren wird mit der Entmystifizierung der Figur noch einmal in aller Deutlichkeit unterstrichen.

    Letzten Endes muss man Reeves von sämtlichen Anklagepunkten freisprechen: Ein Trittbrettfahrer des Vampir-Booms ist er definitiv nicht. Auch auf eine „ReevesPlag Wiki" wird man verzichten können, denn neben dem obligatorischen Coming-of-Age-Motiv kann der Regisseur der Geschichte einen subtilen und pointierten Gesellschaftsbezug abgewinnen – dies ist umso bemerkenswerter, als dass das Horror-Genre allzu gerne als Projektionsfläche plumper Gesellschaftskritik dient. Das US-Remake „Let Me In" dürfte auch das Interesse an Lindqvists Romanvorlage und Alfredons „So finster die Nacht" neu entfachen. Reeves hat ein visuell wie inhaltlich betörendes Drama geschaffen, das nicht nur Genre-Fans bedingungslos zu empfehlen ist.

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