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    Wie der Wind sich hebt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wie der Wind sich hebt
    Von Thomas Vorwerk

    Nachdem das weltberühmte Zugpferd des japanischen Ghibli-Studios bei den letzten Filmen („Arrietty - Die wundersame Welt der Borger“, „Der Mohnblumenberg“) nur die Drehbücher übernahm, liefert Hayao Miyazaki nun seine laut eigener Auskunft letzte Regiearbeit ab. „Wie der Wind sich hebt“ ist wie gewohnt ein wunderschön und klassisch animierter Zeichentrickfilm, in dem es diesmal aber nicht um eine jugendliche oder kindliche Hauptfigur geht und in dem der Schöpfer von märchenhaften Meisterwerken wie „Mein Nachbar Totoro“ und „Prinzessin Mononoke“ (von einigen Traumpassagen abgesehen) eine realistische Geschichte  erzählt. Ansatzweise ist Miyazakis vermeintlicher Schwanengesang sogar so etwas wie ein historisches Biopic, seine künstlerische Handschrift ist jedoch auch bei diesem auf den ersten Blick eher untypischen Werk unverkennbar.

    Jirô (Stimme: Hideaki Anno) begeistert sich seit seiner Kindheit für Flugzeuge, wegen seiner Kurzsichtigkeit kommt eine Laufbahn als Pilot aber nicht infrage. Er will stattdessen selber Flugzeuge entwerfen und ein Ingenieursstudium an der Universität aufnehmen. In der Bahn auf seinem Weg zur Hochschule lernt er 1923 das halbwüchsige Mädchen Nahoko (Miori Takimoto) und dessen Kindermädchen kennen – und dann kommt es zum verheerenden Kanto-Erdbeben. Jirô steht seinen neuen Bekanntschaften im Chaos der Katastrophe bei, aber erst ein gutes Dutzend Jahre später trifft er - inzwischen ist er bei Mitsubishi als Flugzeugdesigner tätig - die mittlerweile volljährige Nahoko wieder. Im Schatten ihrer Tuberkulose-Erkrankung versucht Jirô seine beruflichen Träume zu verwirklichen und persönliches Glück zu finden.

    Der Film ist dem real existierenden Flugzeugkonstrukteur Jirô Horikoshi (1903-1982) und dem Schriftsteller Tatsuo Hori (1904-1953) gewidmet. Schon 2009 kombinierte Miyazaki die biografischen Eckdaten Horikoshis mit Grundzügen einer Novelle Horis, in der es um ein Paar in einem Tuberkulose-Sanatorium geht, zu einem Manga. Dieser Comic erschien ursprünglich in einem Magazin für Modellbau-Freunde und wurde nun zur Vorlage des Films, der als besonders persönliches Werk Miyazakis gelten kann. Die Faszination des Regisseurs für das Fliegen ist gerade in seinen frühen Filmen „Nausicaä aus dem Tale der Winde“, „Das Schloss im Himmel“, „Kikis kleiner Lieferservice“ und „Porco Rosso“ unübersehbar, und seine Vorliebe für die Novelle Horis könnte auch damit zusammenhängen, dass Miyazakis Mutter an Tuberkulose litt und jahrelang in einer Klinik behandelt wurde. In der unterschiedlichen Kreativität der (Amateur-)Künstlerin und des Ingenieurs spiegeln sich zudem die beiden Seiten der schöpferischen Persönlichkeit des Filmemachers.

    Unabhängig von etwaigen biografischen Bezügen stecken in der Geschichte buchstäblich Schweiß, Blut und Tränen: Kurz nacheinander sieht man, wie die Hobbymalerin Nahoko bei einer „Lungenblutung“ ein Gemälde bekleckst und wie Jirôs Berechnungen von seinen Tränen durchnetzt werden. Miyazaki schafft von Beginn an solche poetische Verbindungen zwischen den beiden unglücklich Liebenden, sein bevorzugtes Element dafür ist der Wind und es erweist sich als durchaus gefährlich: Während der Bahnfahrt fegt der Fahrtwind Jirô den Hut vom Kopf, Nahoko riskiert gedankenlos ihr Leben, um die Kopfbedeckung einzufangen. Beim komplett zufälligen Wiedertreffen der beiden ein gutes Jahrzehnt später entreißt der Wind der Malerin einen Sonnenschirm, den diesmal er als vorbeiziehender Spaziergänger einfängt. Und wenn der Ingenieur die junge Frau später umwirbt, geschieht dies über ein Papierflugzeug, das auf dem Dach landet oder in einigem Abstand am Balkon vorbeigleitet.

    Der französische Schriftsteller Paul Valéry lieferte mit seiner Gedichtzeile „Le vent se lève, il faut tenter de vivre“ („Der Wind hebt an, wir müssen versuchen zu leben“), in der japanischen Übersetzung den Titel für die Novelle, den Manga und den Film und seine Worte finden in Miyazakis Inszenierung ein vielfältiges Echo. So auch in der Verbindung zwischen Jirô und dem italienischen Luftfahrtingenieur und Unternehmer Caproni (auch dies eine Fiktionalisierung einer gleichnamigen realen Person). Sie scheinen sich ausschließlich in der flüchtigen Welt von Träumen zu begegnen, wo sie über ihre jeweils neuesten Projekte diskutieren, aber auch über Familienwerte oder die wirtschaftlichen Probleme, die ihre Heimatländer vereinen. Doch bei beiden ist man sich zugleich sicher, dass sie sich mit Leichtigkeit über etwaige Hindernisse hinwegsetzen können. Jirô benötigt nicht mehr als seinen Rechenschieber und eine winzige Eingebung - selbst die armselige Gräte einer Makrele kann seine Inspiration abheben lassen.

    Dass hier mit Japan, Italien und Deutschland (Jirô macht einen Ausflug nach Dessau, zu den Junkers-Flugwerken) ausgerechnet die verbündeten Aggressoren des Zweiten Weltkriegs für ihre visionären Ingenieursleistungen (und hier und da auch für ihre literarischen Errungenschaften wie Thomas Manns „Zauberberg“) gepriesen werden, statt die kriegerischen Ziele der Flugzeugindustrie (oder die Ausbeutung chinesischer und koreanischer Zwangsarbeiter) kritisch zu hinterfragen, ist ein Problem, dessen sich Miyazaki bewusst ist. Er sieht in der Verwirklichung solcher (Jugend-)Träume immer auch ein Element des Wahns, ein dem Streben nach Schönheit innewohnendes Gift, das man auch in der grenzwertigen Liebesgeschichte wiederfindet, bei der man ebenso wenig über den (erheblichen) Altersunterschied nachdenken sollte wie über das im Film komplett ausgeblendete Detail, dass die „Mitsubishi Zero“, Jirôs große Errungenschaft, die verwegenes Design mit großer Reichweite verbindet, exakt jenes Kriegsgerät war, das Japan beim Angriff auf Pearl Harbor einsetzte.

    Losgelöst von solchen Kritikpunkten gehört „Wie der Wind sich hebt“ graphisch und erzählerisch zu den Höhepunkten in Miyazakis Schaffen. Mit spielerischer Eleganz wechselt er zwischen atemberaubenden Flugaufnahmen, der leichtfüßigen Romanze mit Verspätung, beeindruckenden dramatischen Szenen (die Erdbebensequenz kann mit den meisten „Godzilla“-Filmen mithalten) und tragischer Melodramatik, und wählt dafür ein ganz eigenes Tempo. Auf CGI-Effekte verzichtet der Anime-Innovator dabei fast komplett und legt dafür umso mehr Wert auf die verschwenderischen Hintergründe und die schwindelerregende Dynamik seiner Action-Szenen. Erzählerisch ist nicht alles immer subtil (hier und da gibt es leichte Karikaturen wie bei Jirôs Boss Kurokawa oder dem undurchsichtigen Deutschen Castorp, der in der US-Synchronfassung von Regie-Exzentriker Werner Herzog gesprochen wird), und in der Physiognomie der Hauptfiguren kehrt Miyazaki ein wenig zur simplen „Heidi“-Tradition zurück, wo Figuren wie Chihiro, „Prinzessin Mononoke“ oder selbst noch Ponyo mehr Individualität zeigten, aber das tut dem Zauber dieses reifen Werks, das auch für kleine Zuschauer geeignet ist, keinen Abbruch.

    Fazit: Ein Miyazaki-Film ist immer ein Fest, und dies ist vielleicht das Abschiedsfest des Altmeisters. Wer sich ungeachtet einiger problematischer historischer Bezüge ganz auf seine Magie einlässt, erkennt die intime Reife dieses sehr persönlichen Films.

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