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    Boyhood
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Boyhood
    Von Björn Becher

    Mit „Before Sunrise”, „Before Sunset” und „Before Midnight” erzählte Richard Linklater von 1995 bis 2013 im Abstand von jeweils neun Jahren drei Kapitel aus der Liebesgeschichte zwischen dem Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und der Französin Celine (Julie Delpy). Bei diesen weit auseinanderliegenden Momentaufnahmen bestand ein besonderer Reiz darin, zu sehen, wie sehr sich die Figuren in der langen Pause zwischen den Filmen verändert haben. Seit 2002 arbeitete Linklater aber neben der „Before“-Trilogie und anderen Werken auch noch an einem weiteren Langzeitprojekt, bei dem die Entwicklung des Protagonisten in ihrer Kontinuität im Mittelpunkt steht: Bis 2013 versammelte der Regisseur im Jahresabstand jeweils für ein paar Tage vier Stammschauspieler und wechselnde Nebendarsteller vor der Kamera, um die Kindheit und Jugend eines Jungen in Texas vom Anfang der Schulzeit bis zum Wechsel ans College nachzuzeichnen. Das Ergebnis heißt „Boyhood“ und ist nicht nur ein wunderbares Gegenstück zu den „Before“-Filmen, sondern vor allem ein ungemein faszinierendes Spielfilm-Dokument, das sich über 164 Minuten ganz ohne künstlichen Spannungsbogen entfalten darf und gerade dadurch umso wahrhaftiger wirkt.

    Mitten im ersten Schuljahr wird der sechsjährige Mason Jr. (Ellar Coltrane) aus seinem gewohnten Umfeld gerissen, denn seine alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) will in ihrer texanischen Heimat noch einmal aufs College gehen und zieht deswegen mit dem Jungen und seiner zwei Jahre älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater) nach Houston. Dies hat zumindest den Vorteil, dass die Kinder ihren Vater, den Hobby-Musiker und Lebenskünstler Mason Sr. (Ethan Hawke), den sie seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen haben, wieder öfter zu Gesicht bekommen. Für die folgenden zwölf Jahre wird der Zuschauer zum Zeugen von Masons Kindheit und Teenagerzeit sowie der Erlebnissen seiner liberalen Familie im konservativen Texas: Wir sehen neue, glücklose Ehen seiner Mutter, weitere Umzüge und damit verbundene Schulwechsel, einen Camping-Ausflug mit dem Vater, die Pubertät, das erste Bier, das Rauchen eines Joints, die erste Liebe und den High-School-Abschluss bis hin zum Wechsel ans College…

    Es liegt ein besonderer Reiz darin, jemanden buchstäblich vor der Kamera aufwachsen zu sehen. Das gilt für Langzeitdokumentationen wie „Die Kinder von Golzow“, wo 18 Menschen in insgesamt zwanzig Filmen über einen Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert porträtiert wurden, genauso wie für langlebige Fiktionen wie die TV-Serie „Lindenstraße“, in der ein Millionenpublikum verfolgen konnte, wie nicht nur aus dem kleinen „Klausi Beimer“ ein Mann wurde, sondern auch aus seinem Darsteller Moritz A. Sachs. Im Bereich des Kinofilm ist François Truffauts berühmter „Antoine Doinel“-Zyklus wohl das bekannteste Beispiel: In fünf Filmen spielte der 1944 geborene Jean-Pierre Léaud bis 1979 das Alter Ego Truffauts, zuerst als Jugendlichen, später als erwachsenen Mann. In „Boyhood“ ist der sonst meist auf eine ganze Reihe Filme oder gar Hunderte von Serienepisoden verteilte Prozess des Älterwerdens nun in einem Einzelwerk von knapp drei Kinostunden kondensiert. Hier kann der Zuschauer in einem einzigen Film mitansehen wie Ellar Coltrane und Richard Linklaters Tochter Lorelei von kleinen Kindern zu jungen Erwachsenen heranwachsen und sieht daneben auch noch wie die Kinostars Patricia Arquette („True Romance“) und Ethan Hawke („Gattaca“) sich über die Jahre verändern.

    Auch wenn sich die insgesamt nur 39 Drehtage über ein Dutzend Jahre verteilt haben, ist „Boyhood“ ein Film wie aus einem Guss. Linklater teilt ihn nicht etwa starr und fein säuberlich in Jahreskapitel auf, sondern folgt stets einer inneren erzählerischen Logik und so sind die Zeitsprünge zwischen den einzelnen Szenen ganz unterschiedlich groß – das können Stunden, Tage, Wochen, Monate oder auch mal ein ganzes Jahr sein. Die zeitliche Verortung erfolgt dabei ausschließlich über den Kontext der Handlung. Zu Beginn läuft eine Nachrichtensendung über den Irak-Krieg, wodurch deutlich wird, dass wir uns im Jahr 2003 befinden müssen. Später sehen wir den Ansturm bei der Veröffentlichung eines Harry-Potter-Buches oder Szenen aus Barack Obamas erstem Präsidentschaftswahlkampf, die bei der Einordnung helfen. Die klarsten und zugleich subtilsten Wegmarken setzt Linklater aber über die Popkultur und den Fortschritt er Technik. Da steht Lorelei erst auf Britney Spears und dann auf Lady Gaga, ihr Bruder schaut sich einmal Will Ferrells zu dem Zeitpunkt gerade super angesagten Kurzfilm „The Landlord“ in Dauerschleife an und preist später „The Dark Knight“, „Tropic Thunder“ und „Ananas Express“ als seine Lieblingsfilme des Jahres. Und nebenbei wird vom GameBoy Advance über die Xbox bis zur Wii die Entwicklung der Spielekonsolen eingefangen.

    Zum natürlichen Fluss der Handlung passt auch Linklaters gänzlich unaufgeregter Erzählton. Es gibt zwar einzelne dramatische Zuspitzungen - etwa wenn sich Olivias zweiter Ehemann als prügelnder Alkoholiker entpuppt und sie Hals über Kopf mit den Kindern die Flucht antreten muss -, aber im Wesentlichen bekommen wir hier typische, oft ganz alltägliche Ereignisse aus dem Leben eines normalen Heranwachsenden zu sehen: schöne und weniger schöne Momente mit Freunden und Familie, Streit unter Geschwistern, Gespräche mit den Eltern. Das ist vor allem in der herausragenden ersten Hälfte des Films immer wieder sehr amüsant, so wenn sich Mason und seine Schwester ein Zimmer teilen müssen:  Sie spielt sich als Diva auf, raubt ihm den letzten Nerv und am Ende gelingt es ihr, es so aussehen zu lassen, als wäre nur er schuld an dem Streit. Die Besetzung dieser beiden Hauptrollen erweist sich dabei als doppelter Glücksgriff: Linklaters Tochter Lorelai gibt ganz herrlich die leicht blasierte Göre, während Masons Entwicklung vom zugleich aufgeweckten und verträumten Jungen, der mit großen Augen die Welt entdeckt, zum nachdenklichen Melancholiker mit Vorliebe für Kunstfotografie von Ellar Coltranes mit großer Natürlichkeit dargestellt wird. Mit dieser Wandlung verändert sich auch der zunächst leichte Ton des Films und wird etwas ernster.

    Obwohl Patricia Arquette deutlich mehr Leinwandzeit hat als Ethan Hawke (der vom Rebellen mit Oldtimer zum biederen Vater mit Familienkutsche ebenfalls eine bemerkenswerte Entwicklung durchläuft), sind es vor allem die kleinen Szenen mit ihm und den Kindern, die im Gedächtnis bleiben. Richard Linklater beweist hier einmal mehr, dass er ein famoser Drehbuchautor ist: wenn Mason Sr. nach anderthalb Jahren das erste Mal seine Kinder wiedersieht und beim Bowlen darüber diskutiert wird, warum ohne Seitenbegrenzung gespielt wird; oder wenn die Kinder rätseln, ob der Vater mit der Rothaarigen, die ihn gerade angesprochen hat, eine sexuelle Beziehung unterhält; oder wenn Mason Sr. seine 15 Jahre alte Tochter höchst umständlich aufzuklären versucht, ihr am Ende sagt, sie solle immer ein Kondom tragen und dann seinen kuriosen Lapsus bemerkt; oder wenn Vater und Sohn sich bei einer „Star Wars“-Diskussion näherkommen als jemals zuvor. Mit wunderbar auf den Punkt gebrachten und vor allem ungemein authentischen Dialogen machen Linklater und seine Schauspieler aus den scheinbaren Nichtigkeiten des Alltagslebens magische Kinomomente.

    Richard Linklater verknüpft die Geschichte von Masons Coming of Age gleichsam nebenbei mit einer kleinen soziopolitischen Chronik des Erwachsenwerdens in seiner eigenen Heimat Texas, wo die durch und durch liberale Familie einige absurde Erlebnisse hat. Da wird in der Schule nach der Nationalhymne auch noch ein Loblied auf die texanische Flagge gesungen und zum 15. Geburtstag bekommt Mason von den strengkonservativen Eltern der neuen Frau seines Vaters eine Bibel und ein Gewehr geschenkt. Zu einer amüsanten Szene kommt es, als Mason Jr. beim Platzieren von Werbeschildern für den Wahlkampf von Barack Obama ausgerechnet bei einem Mann anfragt, der die Konföderiertenflagge gehisst hat. Nur einmal weicht Linklater gegen Ende etwas deutlicher von der locker-beiläufigen Art des Erzählens ab und die entsprechende „American Dream Come True“-Sequenz mit einem mexikanischen Restaurantmanager hat in ihrer überhöhenden Zuspitzung dann auch den Beigeschmack eines Hollywood-Klischees. Das passt nicht recht zum Rest des Films, aber es ließe sich zugunsten dieser Szene durchaus einwenden, dass das Leben manchmal eben auch das Kino imitiert. Zumal Linklater auch noch einen überzeugenderen Schlusspunkt folgen lässt.

    Fazit: Richard Linklaters Mammutprojekt „Boyhood“ ist ein unbedingt sehenswerter Blick auf ein ganzes Kinderleben im „Schnelldurchlauf“ und ein wahrer Kino-Meilenstein.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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