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    Ostfriesisch für Anfänger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ostfriesisch für Anfänger
    Von Antje Wessels

    Seitdem der Zustrom von Schutz- und Hilfesuchenden in Deutschland und Europa im Sommer 2015 durch den Krieg in Syrien extrem angestiegen ist, dominieren Flüchtlingskrise und Einwanderungspolitik die öffentlichen Auseinandersetzungen auf großen Teilen des Kontinents. Den fremdenfeindlichen Parolen der Rechtspopulisten steht die Hilfsbereitschaft vieler Menschen entgegen, die sich ehrenamtlich für die Neuankömmlinge engagieren, aber die Probleme bleiben schwierig und umstritten. Und wie immer wenn eine politische Debatte die Gemüter so stark und nachhaltig erhitzt, kommt es zu zahlreichen aktuellen künstlerischen Beiträgen zum Thema. So geht es auch im Film verstärkt um Flucht und Flüchtlinge, das Eigene und das Fremde – erinnert sei nur an Gianfranco Rosis bewegende Lampedusa-Dokumentation „Seefeuer“, die mit dem Goldenen Bären der Berlinale 2016 ausgezeichnet wurde. Noch vor Simon Verhoevens Gesellschaftssatire „Willkommen bei den Hartmanns“ mit Elyas M’Barek kommt nun mit Gregory Kirchhoffs „Ostfriesisch für Anfänger“ eine weitere deutsche Produktion zum Themenkomplex in die Kinos: eine Tragikomödie mit Integrationsschwerpunkt, die vor allem durch ihren konstruktiven und versöhnlichen Ansatz überzeugt.

    Nach dem Tod seiner geliebten Frau hat sich der mürrische Ostfriese Uwe Hinrichs (Dieter Hallervorden) fast vollständig aus der Gesellschaft zurückgezogen. Tagsüber steht er hinter dem Tresen seines kleinen Tankstellenkiosks, nebenbei bastelt er Holzschiffe für einen Buddelschiff-Wettbewerb und abends schleicht er sich in sein mittlerweile gepfändetes Haus, wo er die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. Dass die Globalisierung auch vor Ostfriesland nicht Halt macht, spürt der konsequent plattdeutsch schnackende Uwe bald am eigenen Leib, als eine Gruppe ausländischer Fachkräfte in „seinem Haus“ einquartiert werden soll. Er macht in der Dorfkneipe Stimmung gegen die „Utländer“ und versucht alles, um die Eindringlinge aus seinem Örtchen zu vertreiben. Als Uwe dabei den Bogen überspannt und ihm eine Festnahme wegen Körperverletzung droht, haben die Verantwortlichen des Integrationsprojekts eine Idee: Uwe soll den Ausländern Deutschunterricht geben, im Gegenzug darf er sein Haus behalten. Widerwillig lässt sich er sich darauf ein und zunächst merkt niemand, dass Uwe seinen internationalen Sprachschülern kein Hochdeutsch, sondern Plattdeutsch beibringt…

    Rein inszenatorisch fällt „Ostfriesisch für Anfänger“ sehr unauffällig, fast ein wenig bieder aus, doch den fehlenden ästhetischen Wagemut gleicht Regisseur Gregory Kirchhoff durch erzählerische Abenteuerlust aus: Schon mit der Idee, den von Dieter Hallervorden („Honig im Kopf“) zwischen grantig-unsympathisch und melancholisch-verzweifelt gespielten Uwe über weite Teile Plattdeutsch sprechen zu lassen, gehen die Filmemacher ein Risiko ein, mit dem sie den Zuschauer gleichsam besonders nah an die Position der „Utländer“ heranführt. Denn wer des Plattdeutschen nicht mächtig ist, für den wirken manche Aussagen des grobmotorischen Protagonisten mehr als befremdlich, einige seiner Ausrufe lassen sich gar nur anhand von Gestik und Mimik interpretieren. So rufen die extremen und plötzlichen Stimmungswechsel Uwes nicht selten allgemeine Ratlosigkeit hervor – um diese Figur und die Gründe für ihr Verhalten nachvollziehen zu können, bedarf es einer gewissen Anstrengung auch seitens des Publikums. Und Drehbuchautor Sönke Andresen („Ich fühl mich Disco“) stellt Uwe eben auch nicht als eindimensionalen Fremdenhasser dar.

    Vielmehr lernen wir den Protagonisten bald als genügsamen Mann kennen, der sich mit einfachen Dingen zufrieden gibt und froh ist, wenn er noch einmal in „seinem“ Haus duschen darf - seine wenige freie Zeit verbringt er am Grab seiner verstorbenen Frau. Leicht ist hinter der rauen Fassade des alten Mannes zu erkennen, dass seine Skepsis gegenüber den Fremden nicht auf Blindheit oder Hass zurückzuführen ist, sondern auf Angst und Unsicherheit. Die Begegnung mit den „Utländern“ bedeutet für ihn zunächst vor allem eine Störung seines gewohnten Tagesablaufs, erst allmählich findet er zu der Bereitschaft, sich auf die veränderte Situation einzulassen. Gregory Kirchhoff und Dieter Hallervorden nehmen sich Zeit für diesen Prozess und wecken Verständnis für die Frustrationen dieses unprätentiösen Mannes. Umso wirkungs- und hoffnungsvoller ist es schließlich, wenn Uwe den Sprachkurs mit seinen Schülern, den er schon nach Tag eins hinschmeißen wollte, nach einigen Umwegen und unterstützt von den Fachkräften doch noch fortsetzt: ein überzeugendes Plädoyer dafür, es ruhig auch mal mit unkonventionellen Methoden zu probieren – schließlich sind wir letztlich alle gleichermaßen auf die Bereitschaft angewiesen, mit Geduld und Toleranz aufeinander zuzugehen.

    So moralisch einwandfrei und endharmonisch wie das klingen mag, ist „Ostfriesisch für Anfänger“ dabei gar nicht, mit viel Humor werden auch die unangenehmen Auswüchse aufs Korn genommen und die Ratlosigkeit angesichts teilweise gewaltiger Hindernisse sparen die Filmemacher ebenso wenig aus. Wenn Uwe etwa kurz vor dem Einzug der Ausländer mit einem Dung-Wagen auf die mutmaßlichen Eindringlinge zusteuert, dann wird die vertrackte Lage auf die Slapstick-Spitze getrieben – eine urkomische Szene mit ganz bitterem Beigeschmack. Die von Victoria Trauttmannsdorff („4 Könige“) mit viel Power gespielte Organisatorin Vroni sowie Holger Stockhaus („God of Happiness“) als ihr verkrampfter Kollege Dietmar wiederum sind Figuren, die sich extrem  nah an der Karikatur befinden und trotzdem echt genug bleiben, um das deutsche Beamtentum wirkungsvoll zu demaskieren – in seiner schonungslosen Schmerzhaftigkeit gleicht der Humor hier  der Büro-Sitcom „Stromberg“. „Auch in Ostfriesland“ dürfe man „nicht einfach Krabbenbrötchen an der Tanke verkaufen“ sagt zudem der unfreundliche Franchise-Leiter von Uwes Tankstelle mit angewidertem Gesichtsausdruck: Bürokratie, Globalisierung, Regulierung – die sogenannten Sachzwänge bekommen hier schon vor der Titeleinblendung ihr verdientes Fett weg.

    Fazit: Humorvolle, kritische und zugleich versöhnliche Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsthematik.

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