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    Der verlorene Sohn
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der verlorene Sohn

    Schluss mit schwul

    Von Christoph Petersen

    Die Vereinigten Staaten sind nicht nur wegen der unüberbrückbar scheinenden Differenzen zwischen Republikanern und Demokraten ein zerrissener Staat, auch sonst ist die (Gesetzgebung der) USA voller unerklärlicher Widersprüche. So wurde dort neben der Legalisierung von Marihuana auch die Ehe für alle schon mehrere Jahre vor Deutschland eingeführt. Zugleich ist es aber auch heute noch in mehr als 30 Bundesstaaten erlaubt, seine minderjährigen (homosexuellen) Kinder in christliche Umerziehungscamps einzuweisen, aus denen sie oft mit seelischen und physischen Schäden, aber ganz sicher nicht „hetero“ wieder herauskommen. Nach aktuellen Schätzungen gibt es in den USA 700.000 Opfer solcher Einrichtungen.

    Auch Garrard Conley gehört dazu. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Jugendlichen ist er gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgegangen. Statt an der (Gaga-)Therapie zu zerbrechen, hat er sie unter anderem in einem aufsehenerregenden Artikel für die New York Times und in seinen Memoiren „Boy Erased“ verarbeitet. Mit „Der verlorene Sohn“ folgt nun die Verfilmung des autobiographischen Bestsellers, bei der Autor und Regisseur Joel Edgerton („The Gift“) zwar die Namen der Beteiligten geändert hat, aber davon abgesehen konsequent darauf verzichtet, wie sonst in Hollywood üblich „noch einen draufzusetzen“. Statt Zuspitzung und Dramatisierung liefert er ein erstaunlich unaufgeregtes Porträt der Vorgänge in einer solchen Einrichtung, was seine Anklage aber letztendlich nur noch eindringlicher macht.

    Als der 18-jährige Jared Eamons (Lucas Hedges, oscarnominiert für „Manchester By The Sea“) von einem College-Mitstudenten geoutet wird, stellt ihn sein Vater Marshall (vor allem auf der Schlussgeraden unglaublich vielschichtig: Russell Crowe), ein Autoverkäufer und Baptistenprediger, vor die Wahl: Entweder besucht er ein christliches Umerziehungscamp oder er sieht seine Eltern nie wieder. Als Jared die Tränen der Verzweiflung in den Augen seiner Mutter Nancy (mit grandioser Dauerwellen-Perücke: Nicole Kidman) sieht, willigt er ein. Das Programm ist zunächst auf zwölf Tage angelegt, wobei es streng verboten ist, außerhalb der Einrichtungen mit irgendjemandem über die Therapie zu sprechen. Handys werden kontrolliert, selbst auf die Toilette darf niemand allein und der Körperkontakt mit anderen ist auf das kürzestmögliche Händeschütteln beschränkt...

    Joel Edgerton hätte es sich leicht machen können, indem er einfach den Protagonisten seines Films austauscht. In der Gruppe von Jared gibt es schließlich gleich mehrere Jugendliche, die unter den Erlebnissen noch sehr viel stärker leiden als er – mit grausam-bigotten Eltern, die ohne jede Anstrengung perfekte Hollywood-Bösewichte abgegeben hätten. Jared händelt die ganze Situation hingegen erstaunlich selbstbewusst - und speziell seine Mutter ist voll auf seiner Seite, aber weiß tatsächlich nicht, was in so einer Therapie eigentlich abgeht. „Der verlorene Sohn“ ist eben nicht die genauso gut vorstellbare, mit allen denkbaren Mitteln auf die Tränendrüse drückende TV-Film-der-Woche-Version des Stoffes. Stattdessen setzt Edgerton auf Authentizität und verzichtet dafür auf „extra Drama“. Und gerade deshalb muss man seine Anklage so ernst nehmen.

    Andere Filmemacher hätten wohl recherchiert, was für Schreckensberichte es aus solchen Camps alle gibt – und all diese Erniedrigungen anschließend in komprimierter Form auf ihren Protagonisten niederprasseln lassen. Aber Jared ist eben nur für einige Tage in der Therapie – und somit passieren ihm auch nur einige der vorstellbaren Dinge. Wobei die auch schon schlimm genug sind: Einer seiner Mitstreiter muss etwa seine eigene Fake-Beerdigung über sich ergehen lassen, während seine Familie (inklusive seiner heulenden kleinen Schwester) mit Bibeln auf ihn einprügelt. Später erfährt man lediglich indirekt, dass er sich das Leben genommen hat.

    Viele andere Missstände werden hingegen nur angedeutet, ohne je platt ausformuliert werden zu müssen: Wenn die Jugendlichen selbst auf Toilette von Angestellten (die meist selbst früher an einer solchen Therapie teilgenommen haben) begleitet werden, kann man sich leicht vorstellen, dass das einige der Aufseher durchaus auch selbst sexuell anspricht. Und wenn der Einrichtungsleiter Victor Sykes (kaum festzunageln: Joel Edgerton) ohne jede psychologische Ausbildung empfiehlt, lieber noch ein ganzes Jahr lang an der Therapie teilzunehmen, statt aufs College zu gehen, spielen dabei sicherlich auch finanzielle Erwägungen eine Rolle. Schließlich muss der Laden ja irgendwie am Laufen gehalten werden.

    Diese vergleichsweise subtile Art hat vor allem einen ganz entscheidenden Vorteil: Es gibt nicht den einen Bösewicht wie etwa einen klischeehaft sadistischen Anstaltsleiter, auf den man alles abwälzen könnte, was hier schiefläuft! Vielmehr ist das religiöse System der Verteufelung von Homosexualität schuld daran, dass Menschen, die eigentlich sogar das Beste füreinander wollen, sich plötzlich unglaublich grausame Dinge antun. Denn dass viele der Therapiemethoden wie die Übung, seinen Körper möglichst in stabilen Dreiecks-Formen zu präsentieren (weil das besonders „männlich“ sei), für einen Außenstehenden vollkommen absurd und idiotisch anmuten, machen sie schließlich nicht weniger schädlich.

    Fazit: Ein für Hollywood absolut untypischer Film ohne Sensationsgehabe, der seine anklagende Wucht gerade aus seiner Nicht-Übertreibung heraus entwickelt. 

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