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    Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

    Der Schulbuch-Klassiker kommt ins Kino!

    Von Oliver Kube

    Wie kann man Kindern die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust erklären und veranschaulichen, ohne sie womöglich direkt zu traumatisieren? Generationen von Eltern und Lehrern half dabei der 1971 in Großbritannien und 1973 in Deutschland veröffentlichte, autobiografisch-gefärbte Jugendroman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Die Autorin Judith Kerr stammt aus einer jüdischen Künstler-Familie, die 1933 Berlin verließ, um über die Schweiz und Frankreich nach London zu flüchten. Ihr Vater war Alfred Kerr, ein zu Zeiten der Weimarer Republik hochangesehener Schriftsteller, Journalist und Theaterkritiker; ihre Mutter Julia Kerr war eine Pianistin und Komponistin.

    Nach jahrzehntelanger Präsenz auf hiesigen Lehrplänen zählt das Buch wahrscheinlich zu den meistgelesenen Werken in der Geschichte der Bundesrepublik. Darüber hinaus gab es bereits 1978 eine erste (TV-)Verfilmung. Diese diente ebenfalls lange dazu, Fünft- beziehungsweise Sechstklässlern das Thema „Drittes Reich“ näherzubringen (auch der Autor dieses Textes hat den Film im Geschichtsunterreicht gesehen). Caroline Link (ihr „Nirgendwo in Afrika“ wurde mit dem Oscar als Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet) hat mit „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ nun eine neue, erfreulich nah an der Vorlage bleibende, aufgrund der Flüchtlingssituation aber dennoch erstaunlich aktuell wirkende Version geschaffen.

    Einer der letzten unbeschwerten Tage: Noch hat Anna ihr rosa Kaninchen.

    Im Frühjahr 1933 wird die Welt der neunjährigen Anna Kemper (Riva Krymalowski) von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Noch lebt sie mit ihrem drei Jahre älteren Bruder Max (Marinus Hohmann), den Eltern und Haushälterin Heimpi (Ursula Werner) in einem luxuriösen Haus mitten in Berlin, geht zur Schule und hat Spaß mit ihren Freundinnen. Aber dann muss alles plötzlich ganz schnell gehen. Anna muss einen Koffer packen, in dem sie aus Platzgründen nur ein paar Kleidungsstücke, zwei Bücher und ein Spielzeug verstauen kann. Sie entscheidet sich gegen ihr geliebtes rosa Stoffkaninchen und für den Teddybären, weil dieser sonst so traurig wäre.

    Kurz darauf sitzt sie mit ihrer Mama (Carla Juri) und Max in einem Zug Richtung Schweiz, wo ihr bereits ein paar Tage zuvor heimlich verschwundener Vater Arthur (Oliver Masucci) auf sie wartet. Auch wenn sie Berlin, Heimpi und ihr Kaninchen vermisst, gewöhnt sich Anna bald an die neue Umgebung und findet Freunde. Doch nach einer Weile geht der Familie das Geld aus, denn Arthurs nazikritischen Artikel werden mittlerweile nicht einmal in der Schweiz mehr abgedruckt. So ziehen die Kempers weiter nach Paris, wo sie in einer schäbigen Dienstbotenmansarde hausen und schon wieder von vorn beginnen müssen – und diesmal beherrscht Anna nicht einmal die Sprache…

    Viel Humor, keine Verharmlosung

    Caroline Link geht das erste Projekt nach ihrem kolossal erfolgreichen „Der Junge muss an die frische Luft“ mit offensichtlicher Liebe zu der literarischen Quelle an. Das von ihr in Kooperation mit der Schauspielerin Anna Brüggemann verfasste Drehbuch behält die mitunter altersgerecht naive, dennoch von Kerr mit viel Klugheit und sogar ein wenig Humor angefütterte Perspektive der jungen Protagonistin bei. Ein tolles Beispiel dafür: Als Anna im Zug von Berlin nach Zürich in einem Lexikon über bekannte Persönlichkeiten blättert, bemerkt sie beiläufig, dass all diese Menschen offenbar eine schwierige Kindheit hatten, bevor sie berühmt wurden. „Dann wird aus uns wohl nichts werden“, meint die hier noch unbeschwert von einer baldigen Rückkehr in die Heimat ausgehende Anna lachend.

    Judith Kerr hat das Buch einst auch deshalb geschrieben, um ihren eigenen Kindern mit dem gebotenen Ernst, aber zugleich auch lockereren Elementen zu verdeutlichen, was sie selbst in deren Alter durchlebt hat. Der Film behält diese Dualität bei: Annas Eltern sind ehrlich zu ihren Kindern und inszenieren keine heitere, heile Welt à la „Das Leben ist schön“ für sie. Sie erzählen etwa weitestgehend offen von den Repressalien, falls die Familie nach Berlin zurückkehren würde, und tun auch nicht so, als ob sie selbst wüssten, wie es in Zukunft weitergehen soll. Speziell der von Oliver Masucci („Dark“) verkörperte Vater versucht das Alles aber immer auch etwas aufzulockern, etwa wenn er sich bei Herrn Hitler zu beschweren gedenkt, dass das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld von 1.000 Reichsmark wohl doch etwas zu knickrig geraten sei. So schaffen es die Eheleute Kerr, Anna und Max die Wahrheit zu sagen, ohne ihnen die Kindheit endgültig zu ruinieren oder ihnen endgültig alles Unschuldige zu nehmen.

    Auch auf der Flucht hält die Familie Kemper immer zusammen!

    Auffällig ist, dass trotz der Übertragung ins visuelle Medium auch hier die tödliche Bedrohung nur unterschwellig zu spüren ist, obwohl es sicher einfacher gewesen wäre, diese konkret zu zeigen. So marschieren auf den Straßen von Annas Berlin keine SA-Schergen; wir sehen keine gewalttätigen Übergriffe, nicht einmal Waffen oder Uniformen. Die einzige Ausnahme sind drei Mitglieder der Hitlerjugend gleich in der ersten Szene. Trotzdem wird die brenzlige Situation der Familie nie verklärt beziehungsweise gar verharmlost. Denn eine gewisse Intensität ist allgegenwärtig. Da wären neben dem düsteren Licht speziell in Paris (ein andeutungsvoller Schatten dessen, was im Juni 1940 passieren wird) etwa die von Anne Bennent („Séraphine“) verkörperte antisemitische Vermieterin in der französischen Hauptstadt oder Heimpis gehetzte Stimme, wenn sie sich von ihren in die Schweiz geflüchteten, früheren Schützlingen unter Tränen am Telefon aus Berlin für immer verabschiedet.

    Der in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, in der Schweiz sowie in Prag (doubelt für Paris!) gedrehte Film punktet mit einer authentischen Ausstattung und einer starken Bildführung (Kamera von Bella Halben, „Das Tagebuch der Anne Frank“). Am erstaunlichsten ist aber, wie selbstverständlich und authentisch Newcomerin Riva Krymalowski vor der Kamera agiert und den Film über weite Strecken auf ihren schmalen Schultern trägt – egal, ob im Zusammenspiel mit deutlich erfahreneren Kollegen, mit anderen Kinderdarstellern oder solo. Es gibt ein wiederkehrendes Element, dem die junge Schauspielerin erstaunliche Tiefe verleiht. Immer wenn die kleine Protagonistin erfährt, dass es an einen anderen Ort geht, läuft sie ein letztes Mal durch das Haus und die Straße in der jeweiligen Umgebung und verabschiedet sich mit fast andächtig vorgetragenen Worten von liebgewonnenen Gegenständen, Gebäuden oder Personen. Das sind wunderbare Momente, die kein noch so erfahrener Mime ergreifender hätte rüberbringen können.

    Fazit: Eine gelungene Adaption des Jugendbuch-Klassikers zu einem berührenden Familienfilm, der auch jüngere Kinofans nicht überfordert oder verängstigt.

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