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    Kajillionaire
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Kajillionaire

    Skurriler geht’s kaum noch

    Von Christoph Petersen

    Die Mengenangabe Kajillion kommt nicht, wie man es vielleicht vermuten könnte, irgendwann nach Millionen, Billionen und Trillionen. Vielmehr steht der amerikanische Slang-Ausdruck einfach für eine nicht näher spezifizierte große Summe. Der Titel von „Kajillionaire“, dem neuen Film von „Ich und Du und alle, die wir kennen“-Regisseurin Miranda July, ist deshalb auch nur eine weitere ironische Pointe – schließlich geht es in der Tragikomödie um ein Trickbetrüger-Trio, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die von ihm ergaunerten Beträge in der Regel ganz besonders winzig ausfallen.

    Vater Robert (Richard Jenkins), Mutter Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) betrügen unter anderem bei Gewinnspielen, an denen sie unter falschem Namen mehrfach teilnehmen, nur um dann irgendwelchen (fast) wertlosen Ramsch zu „ergaunern“. Auf diese Weise sollen die 500 Dollar für ihr Zuhause in einem abbruchreifen Büro zusammenkommen – wobei die Miete überhaupt nur so günstig ist, weil mehrfach am Tag rosafarbener Schaum durch die Wand quillt, den die Familienmitglieder jedes Mal, wenn ihre Armbanduhren piepen, mit Mülleimern und Handtüchern wieder beseitigen müssen. Absurd – und trotzdem noch längst nicht das Bizarrste, was in „Kajillionaire“ geschieht…

    Ein normaler Tag im Leben der Trickbetrügerfamilie

    Gerade zu Beginn erinnert „Kajillionaire“ an die Filme von Wes Anderson – wenn sich etwa die dreiköpfige Gaunerfamilie immer wieder geduckt an einem Bauzaun vorbeischleicht, um ihrem Vermieter zu entgehen, der auf sein Geld wartet. Oder wenn Old Dolio, die ihren ungewöhnlichen Namen nur deshalb bekommen hat, weil man so das Erbe eines obdachlosen Lotto-Millionärs erschleichen wollte, mit einer völlig absurden Parcours-Choreographie in die lokale Postfiliale „eindringt“ – nur geht es bei dem Coup eben nicht um Casino-Millionen wie bei „Ocean’s Eleven“, sondern um ein paar zufällige Briefe und Päckchen, die in der Regel ebenfalls nichts Wertvolles enthalten (ein Plüsch-Einhorn, das sich mit einem gefundenen Kaufbeleg im Spielzeuggeschäft zurückgeben lässt, ist da schon das höchste der Gefühle).

    Robert und Theresa behandeln Old Dolio dabei nicht wie eine Tochter, sondern wie eine Komplizin. Sie bekommt zwar ihren gerechten Anteil, aber keinerlei Aufmerksamkeit oder Zuneigung, das würde sie nur schwach machen. Und genau so ist auch das erste Drittel von „Kajillionaire“: skurril, komisch, aber eben auch konsequent kühl.

    Das ändert sich erst, wenn die in einem Brillengeschäft arbeitende Melanie (Gina Rodriguez) als weiteres Mitglied zu der Trickbetrüger-Truppe stößt – dann nämlich wird Old Dolio zum ersten Mal klar, dass es vielleicht gar nicht okay ist, wie ihre ohnehin an den baldigen Weltuntergang glaubenden Eltern sie behandeln…

    Völlig gaga – und trotzdem sehr berührend

    Es ist erstaunlich, wie Miranda July und ihre Schauspieler inmitten des bizarren Geschehens immer wieder auch Momente voller Wärme kreieren, selbst wenn man sich als Zuschauer natürlich nie sicher sein kann, ob diese auch ernstgemeint sind – schließlich geht es um Trickbetrüger. Ein solches Szenario, das trotz seiner Absurdität zu Herzen geht, hat etwa mit einem sterbenden Mann zu tun, der sich von den „Einbrechern“ nur wünscht, dass sie in der Küche Geräusche machen, als würde in seinem vereinsamten Haus noch immer eine Familie leben.

    Gina Rodriguez („Auslöschung“) spielt Melanie, deren Entscheidung, sich einfach mal eben einem abgetakelten Trickbetrüger-Trio anzuschließen, sicherlich nicht auf der Hand liegt. Ihre Euphorie ist ansteckend-optimistisch – und so reißt sie den Ton des Films, der zu diesem Zeitpunkt droht, einfach „nur“ skurril zu werden, eigenhändig herum.

    Mit ihrer unbedingten Begeisterung für ihre exzentrischen Komplizen entfacht sie zugleich auch das Interesse des Publikums aufs Neue. Damit ist sie genau das Gegenteil von Evan Rachel Wood („Westworld“) als Old Dolio, die in ihren viel zu weiten Klamotten bis zum Finale agiert, als wären ihr alle Gefühle abtrainiert worden – womit die große Szene, in der sie auf einer Tankstellen-Toilette die Kurve kriegt, aber natürlich nur noch mitreißender gerät.

    Richard Jenkins, Debra Winger, Evan Rachel Wood

    Die herausforderndste Gratwanderung gelingt unterdessen dem zweifach oscarnominierten Richard Jenkins („Shape Of Water“) und der dreifach oscarnominierten Debra Winger („Ein Offizier und Gentleman“) – denn wo ihre Figuren im ersten Moment noch süß-skurril anmuten, wird es im Verlauf des Films immer leichter, sie einfach als verantwortungslose Egoisten abzuschreiben.

    Beide legen aber immer wieder gerade genau so viele Anknüpfungspunkte offen, dass man als Zuschauer trotz allem dranbleibt – und hofft, dass sie doch noch irgendwie die Kurve kriegen. Wie es ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten, aber die Schlusspointe ist noch mal besonders gelungen.

    Fazit: Die Familien-Tragikomödie ist derart bizarr, dass es einen am Ende tatsächlich überrascht, wie sehr das Schicksal der superskurrilen Figuren trotzdem berührt.

    Wir haben „Kajillionaire“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen.

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