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    Tatort: Das verschwundene Kind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Tatort: Das verschwundene Kind

    Ein "Avengers"-Star ermittelt in Göttingen

    Von Lars-Christian Daniels

    Bei ihrem vorherigen Einsatz im November 2017 hat sich die niedersächsische LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm nicht gerade mit Ruhm bekleckert: In Anne Zohra Berracheds gelungenem „Tatort: Der Fall Holdt“, der an den realen Entführungsfall von Maria Bögerl aus Heidenheim angelehnt war, gelang es Lindholm nicht, den Täter zu überführen. Doch damit nicht genug: Weil die Kommissarin den unschuldigen Hauptverdächtigen unter Druck setzte, nahm der sich das Leben. Am Ende der Folge saß die Kommissarin weinend im Präsidium, musste sich eine Standpauke von ihrem Chef anhören und stand vor dem Scherbenhaufen ihrer Ermittlungen. Anders als sonst in der beliebtesten deutschen Krimireihe üblich hat dieser Fehltritt nun nachhaltige Konsequenzen: Lindholm wird von Hannover dauerhaft nach Göttingen versetzt und zur normalen Kommissarin degradiert, die sich nicht nur in einer neuen Stadt, sondern auch in einem neuen Team zurecht finden muss. Das sorgt in Franziska Buchs solidem „Tatort: Das verschwundene Kind“ für allerhand Reibereien: Mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba, bekannt aus „Black Panther“ und „Avengers 3“) bekommt Lindholm ein echtes Alphatier zur Seite gestellt, das sein Revier sicher nicht kampflos aufgibt.

    Die frühere LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) wird zur Polizeidirektion in Göttingen strafversetzt. Der dortige Kripo-Chef Gerd Liebig (Luc Feit) setzt sie gemeinsam mit ihrer neuen Kollegin Anaïs Schmitz auf einen Vermisstenfall an: In der abbruchreifen Umkleidekabine einer Schule hat die 15-jährige Julija Petkow (Lilly Barshy) offenbar ein Baby entbunden und dabei viel Blut verloren. Hat die junge Frau das Neugeborene getötet, weil sie mit der Situation überfordert war? Julijas Vater (Merab Ninidze) und ihre jüngere Schwester Polina (Zora Müller) wollen von einer Schwangerschaft nichts gewusst haben – ebenso wie ihr Vertrauenslehrer Johannes Grischke (Steve Windolf), den Julija angehimmelt hat. Eine Spur führt die Ermittlerinnen zu einem dealenden Zwölftklässler: Tim Bauer (Oskar Belton) hat Julija mit Drogen gefügig gemacht und anschließend Fotos einer gemeinsamen Nacht ins Netz gestellt. Erst einmal müssen Lindholm und Schmitz die junge Frau aber finden: Sie ist bei ihrem vorbestraften Stiefbruder Nino Brehmer (Emilio Sakraya) untergetaucht, der sich der Familie Petkow eigentlich nicht mehr nähern darf. Auch seinem Kickboxtrainer Ralf Schmölke (Oliver Stokowski) ist die Situation ein Dorn im Auge…

    Ich arbeite lieber allein, Kommunikation ist nicht so mein Ding und Teamwork auch nicht. Ich hab Probleme, mich auf das Tempo und die Befindlichkeiten anderer einzustellen, und ich hab ein Problem mit Kollegen, die nicht auf meinem Niveau ermitteln“, stellt sich die bekanntlich wenig teamfähige Charlotte Lindholm bei ihrer offiziellen Begrüßung in Göttingen vor – was ihr auf flache Hierarchien pochender Chef Gerd Liebig prompt als Ironie fehlinterpretiert. Ein Teamplayer war Lindholm bei ihren bisher 25 Einsätzen für die Krimireihe noch nie – doch sieht man einmal von der toughen Frauke Schäfer (Susanne Bormann) ab, die der angezählten Lindholm im eingangs erwähnten Vorgänger „Der Fall Holdt“ Paroli bot, bekam die LKA-Kommissarin bei ihren Außeneinsätzen in der niedersächsischen Provinz in aller Regel ziemliche Einfaltspinsel und Landeier in Uniform zur Seite gestellt, die selten auf Augenhöhe mit ihr agieren durften. Dieses 2002 ins Leben gerufene Figurenkonzept ist mittlerweile überholt – und so kommt es nicht von ungefähr, dass der NDR seinen „Tatort“ neu ausrichtet und statt der ewigen Solonummer nun auf ein moderneres weibliches Ermittlerduo setzt (ähnlich wie der MDR in Dresden).

    Hauptdarstellerin Maria Furtwängler, die sich in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich für die Stärkung des sprichwörtlichen „schwachen Geschlechts“ im Filmgeschäft stark gemacht hat, dürfte das ebenso gefallen wie die Tatsache, dass mit der kinoerprobten Filmemacherin Franziska Buch („Conni & Co.“) erneut eine Frau für den „Tatort“ aus Niedersachsen auf dem Regiestuhl sitzt, die gemeinsam mit Jan Braren („Das Joshua-Profil“) und Stefan Dähnert („Das Ende der Geduld“) auch das Drehbuch geschrieben hat. Darin zeichnen die Filmemacher ein angenehm emanzipiertes Frauenbild, wenngleich sie im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Spannungen zu dick auftragen: Schon bei der ersten Begegnung kracht es zwischen den Powerfrauen gewaltig, und auch in der Folge bläst Lindholm ein eisiger Wind aus Schmitz‘ Richtung ins Gesicht – die ist nämlich nicht gewillt sich unterzuordnen, scheint den Konflikte sogar förmlich zu suchen. Hier wäre weniger aber mehr gewesen: Die hollywooderprobte und ungemein ausdrucksstarke Florence Kasumba verleiht der Göttinger Polizistin ein brachiales Selbstbewusstsein, das stellenweise aber ins Karikatureske abdriftet und die Menschlichkeit – von der letzten Filmszene und einem kurzen Moment nach der Obduktion einmal abgesehen – über weite Strecken vermissen lässt.

    Bei seinem zweiten „Tatort“-Auftritt noch etwas blass bleibt hingegen Shooting-Star Daniel Donskoy in seiner neuen Rolle als Gerichtsmediziner – im Hinblick auf seine Figur platzieren die Filmemacher aber einen sehr gelungenen Twist, nachdem sie den Zuschauer zuvor mit einer bewusst kitschig gehaltenen Szene, wie sie aus einer schlechten Rom-Com oder einer Folge „Das Traumschiff“ stammen könnte, gekonnt aufs Glatteis führen. Auch die Auflösung des Kriminalfalls, in dem die Frage „Wer ist der Vater?“ diesmal schwieriger zu beantworten ist als die Frage „Wer ist der Mörder?“, ist gelungen und gibt selbst erfahrenen Krimifans eine harte Nuss zu knacken. Dass sich beim Blick auf die Tatverdächtigen einige Stereotypen – zum Beispiel der aufmüpfige Dealer mit Tattoo und Tolle oder der herzensbrechende Vertrauenslehrer – einschleichen, ist angesichts der Vielzahl an Figuren kaum zu vermeiden, wird durch die Darsteller aber ein Stück weit aufgefangen: Neben Jungschauspielerin Lilly Barshy („Die Pfefferkörner“), die als überforderte Teenie-Mutter eine mitreißende Performance abliefert, überzeugt auch „Bibi & Tina“-Schwarm Emilio Sakraya („Kalte Füße“) in seiner Rolle als kickboxender großer Bruder.

    Fazit: Franziska Buchs „Tatort: Das verschwundene Kind“ ist ein sehenswerter Krimi, der vor Frauenpower nur so strotzt – bei den Figuren tragen die Filmemacher aber oft zu dick auf.

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