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    The Card Counter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Card Counter

    Karten zählen statt Taxi fahren

    Von Björn Becher

    Schon in seinem Debüt als Drehbuchautor, Sydney Pollacks „Yakuza“, erzählt Paul Schrader von einem Mann, der von seiner tiefen Schuld regelrecht zerfressen wird. Seitdem stellt der „Taxi Driver“-Autor immer wieder (meist männliche) Einzelgänger, die mit allen Mitteln nach irgendeiner Form der Vergebung suchen, in den Mittelpunkt seiner Geschichten. Auch sein vornehmlich in wenig schillernden Casinos angesiedeltes Thriller-Drama „The Card Counter“ bildet da keine Ausnahme.

    Der von „Dune“-Star Oscar Isaac verkörperte Kartenzähler lässt auf seiner Reise von einem Pokerturnier zum nächsten gleich zwei Menschen an seiner harten Einzelgänger-Schale kratzen – und darunter steckt in diesem Fall sehr viel mehr als nur die Geschichte eines einzelnen Mannes. So geht es zugleich auch um eines der größten Kriegsverbrechen der amerikanischen Geschichte und die Frage, ob man mit der dabei auf sich geladenen Schuld überhaupt existieren kann...

    Der Kartenzähler (Oscar Isaac) nimmt den jungen Cirk (Tye Sheridan) unter seine Fittiche ...

    William Tell (Oscar Isaac) saß Jahre im Gefängnis und zieht nun von Stadt zu Stadt, um sich in vornehmlich kleineren Casinos seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor allem beim Blackjack versteht es der Kartenzähler, den Spielvorteil für das Haus zu seinen Gunsten zu drehen – und weil er dabei nie zu gierig wird, lassen die Casinos ihn meist gewähren. Auch beim Poker gewinnt William deutlich mehr, als das er verliert. Als er sich am Rande eines Casinobesuchs scheinbar zufällig einen Vortrag auf einer Sicherheitskonferenz anhört, spricht ihn ganz unvermittelt der junge Cirk (Tye Sheridan) an.

    Der will Rache! Er will den gerade vortragenden ehemaligen Militär-Offizier Gordo (Willem Dafoe) foltern und ermorden. Denn der war einer der Hintermänner der grausamen Taten der US-Armee im Abu-Ghraib-Gefängnis im Irak. Während Gordo die Aufdeckung des Skandals ohne Konsequenzen überstand, wurden andere beteiligte Soldaten schwer bestraft: Cirks Vater brachte sich um, Tell landete im Knast. Doch der Kartenspieler hat kein Interesse, sich an Cirks Racheplan zu beteiligen. Stattdessen nimmt er das Angebot der Zockermanagerin La Linda (Tiffany Haddish) an, sich von ihren Klienten die Teilnahme an den größten Pokerturnieren des Landes bezahlen zu lassen. Mit Cirk im Schlepptau reist er also weiter von Stadt zu Stadt...

    Doch kein Rache-Thriller

    Obwohl die Hauptfigur viel aus dem Off erzählt, bleibt sie trotzdem lange undurchschaubar. Denn der Mann, der sich William Tell nennt, erklärt zwar viel über die Regeln, Gewinnchancen und Philosophien diverser Casinospiele, aber lässt sich nicht ein Stück weit in sein Innenleben blicken. Schrader spielt mit diesem Mysterium und nutzt es, um die Erwartungen des Publikums (gerade wenn es seine früheren Filme kennt) konsequent zu unterlaufen. Wenn Cirk und Tell sich konspirativ in einem Hotelzimmer verabreden, kippt das Charakterdrama eben nicht plötzlich in Richtung eines klassischen Rache-Thrillers. Es wird gerade nicht der erwartete Plan gegen Gordo geschmiedet, stattdessen macht der Pokerspieler dem verloren wirkenden jungen Mann das Angebot, fortan sein Reisebegleiter zu werden.

    Seine Gründe dafür bleiben ebenfalls lange nebulös. Schrader inszeniert Tell als Figur, die nicht nur beim Pokern absolut nichts von sich preisgibt: Wenn er ein Motelzimmer bezieht, dann hüllt er zunächst jedes einzelne Möbelstück in weiße Laken – und am Pokertisch trägt er keine Outfits mit buntem Sponsorendruck, sondern nur grau, schwarz und dunkelblau, weshalb er mitunter fast im Hintergrund verschwindet. Dieser Mann würde am liebsten unsichtbar sein und so spielt ihn Oscar Isaac auch: mit einem perfekten Pokerface nicht nur am Tisch, sondern im Leben; als Mann, der sich in keiner Lage in die Karten schauen lässt.

    … und öffnet sich so, obwohl er doch nicht nur Pokertisch am liebsten unsichtbar im Hintergrund verschwindet.

    Als Charakterstudie ist „The Card Counter“ zudem über weite Strecken ziemlich fesselnd geraten. Warum öffnet sich Tell plötzlich gegenüber dem ihm völlig fremden jungen Mann? Für ihn gibt er sein Leben unter dem Radar auf. Während er bisher bewusst nur an Kartenspielen teilgenommen hat, bei denen er nie soviel gewinnt, dass er auffällt, steigt er nun plötzlich bei den ganz großen Turnieren ein – und parallel zur Vater-Sohn-ähnlichen Beziehung zu Cirk lässt er sich auch noch auf seine Managerin La Linda ein.

    Bei der Beantwortung dieser Fragen überzeugen vor allem die Bilder. Die Dialoge sind mitunter ganz schön flach, einige Gespräche sogar regelrecht zäh. Aber die Bilder entwickeln dennoch den nötigen Sog, um die Spannung trotz dieser Schwächen hoch zu halten. Schrader und sein Kameramann Alexander Dynan, der für ihn auch schon „Dog Eat Dog“ und „First Reformed“ fotografierte, finden selbst bei den Kamerafahrten im unfassbar tristen Innenleben der immer gleich aussehenden Casinos viele kleine einnehmende Momente.

    Albtraum Abu Ghraib

    Vor allem aber verleiht er den kurzen, fast schon experimentell gefilmten Rückblenden in Tells Zeit als folternder Soldat in Abu Ghraib eine ungemeine Wucht. Wie stellt man einige der bekanntesten Schreckensbilder der jüngeren Menschheitsgeschichte angemessen nach? Gar nicht! Abu Ghraib sieht in „The Card Counter“ ganz anders aus als in den Fotografien, die nach Aufdeckung des Folterskandals um die Welt gingen – aber wir sehen eben auch keine objektive Darstellung des Geschehens, sondern die Erinnerungen, die Tell überallhin verfolgen.

    In einer Ego-Perspektive stolpern wir als Zuschauer*innen durch labyrinthartige Gänge, die endlos zu sein scheinen. Überall wird gefoltert, die verzerrte Kameraperspektive erweckt den Eindruck eines 360-Grad-Rundum-Blicks, bei dem sich die Gänge bewegen und verbiegen. Es ist der pure Albtraum und so werden diese Szenen zum Schlüssel, um William Tell zu verstehen. Kann sich ein Mann, der solche Bilder in seinen Träumen sieht, noch retten? Kann er das Trauma dieser Schuld überwinden? „The Card Counter“ liefert darauf eine klare und niederschmetternde Antwort...

    Fazit: Mit „The Card Counter“ legt „Taxi Driver“-Autor Paul Schrader eine ebenso faszinierende wie intensive Charakterstudie vor, bei der am Ende vor allem die visuelle Umsetzung überzeugt.

    Wir haben „The Card Counter“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

     

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