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    Dark Glasses - Blinde Angst
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Dark Glasses - Blinde Angst

    Der Giallo-Großmeister meldet sich mit einer Sonnenfinsternis zurück

    Von Jochen Werner

    Die ersten Bilder sind menschenleer. Stadtaufnahmen, Architekturen, Rom, wie man es selten sieht: trist, grau und leer. Dazwischen immer wieder der Blick zum Himmel, durch Zweige, durch Baumkronen. „Dark Glasses“, der Film, den zu machen der große italienische Horror-Regisseur Dario Argento („Rosso - Farbe des Todes“) 20 Jahre warten musste, beginnt mit einer Sonnenfinsternis. Aber wir sehen sie zunächst nicht. Was wir sehen, sind Menschen, die in Grüppchen zusammenstehen und zum Himmel schauen – und zwar durch die titelgebenden schwarzen Gläser. Da kommt einem natürlich ein anderer großer italienischer Regisseur in den Sinn – und man ist vielleicht kurz überrascht, aber eigentlich musste man bei Argento immer schon an Michelangelo Antonioni („Blow Up“) denken.

    Der große Horrormeister ist inzwischen 81 Jahre alt, sein Debüt „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück – und im Grunde gibt es kaum jemanden im Kino der letzten Dekaden, der seine Filme so sehr aus den Räumen, in denen sie spielen, heraus entwickelt wie Dario Argento. Wie ein Wünschelrutengänger, so schildert es Argento selbst in seiner Autobiografie „Fear“, treibe es ihn tage- und wochenlang durch die Städte und das sie umgebende Land, immer auf der Suche nach dem exakt richtigen Haus oder der exakt richtigen Landschaft für seinen nächsten Film. Für einige Werke, die er in mehreren, architektonisch völlig unterschiedlichen Städten in verschiedenen Regionen Italiens drehte, konstruierte er sogar ganz neue, kaum noch identifizierbare Meta-Städte.

    Ilenia Pastorelli ist in "Dark Glasses" vor allem eine Präsenz - und wird von Dario Argento ebenso betörend wie das tödliche nächtliche Rom in Szene gesetzt.

    „Dark Glasses“ hingegen spielt eindeutig in Rom – und einmal dürfen die frisch erblindete Protagonistin Diana (Ilenia Pastorelli) und ihre Mobilitätslehrerin Rita (Asia Argento) sogar an einer der berühmten Ruinenstätten entlangspazieren. Dieses alleinstehende touristische Panorama jedoch betont eigentlich nur noch mehr den ungewohnt eingetrübten Charakter jenes anderen Roms, das Argento hier auf die Leinwand bringt. Es ist natürlich ein gefährliches Rom, insbesondere des Nachts, denn in seinen Straßen und Grünanlagen geht ein Mörder um. Der überfällt Sexarbeiterinnen und tötet sie auf reichlich blutige Weise, wenngleich Argento mit den Morden zumindest in den Maßstäben seines eigenes Werkes eher sparsam umgeht und sich von den ganz zugespitzten Gewaltexzessen, wie er sie etwa in „The Mother Of Tears“ noch voller Lust am Blutmatsch zelebriert hat, eher wieder ein Stück weit abgewandt hat.

    Nachdem eine Kollegin mit blutig durchtrennter Kehle in einem Gebüsch vor einem Hotel das Zeitliche segnet hat, gerät auch die sich ebenfalls in der Sexarbeit (in ihrer eigenen Definition „eine Mischung aus Public Relations und Psychologie“) verdingende Diana ins Visier des Killers. Bei einem durch diesen ausgelösten Verkehrsunfall verliert sie ihr Augenlicht und die chinesischen Eheleute im anderen Wagen ihr Leben. Lediglich der nun verwaiste Junge Chin (Xinyu Zhang) überlebt den Crash unverletzt auf dem Rücksitz…

    Die blinde Frau und der böse Wolf

    So wie sich in Argentos großen Gialli oft zwei ungleiche Fremde auf der Jagd nach dem Bösen zusammengetan haben, finden sich auch die beiden Überlebenden des Unfalls schon bald gemeinsam auf den Spuren des Serienmörders wieder. Wie fast alle Filme von Argento ist aber auch „Dark Glasses“ nicht wirklich ein Whodunit – schließlich geht es bei Argento selten wirklich um das klassische Ratespiel für das Publikum: Wer ist der Killer? Was sind seine Motive? Welche Spuren sind im Film versteckt, auf wen deuten sie hin, und kann ich ihn selbst erraten? Inzwischen legt Argento fast demonstrativ all seine Karten früh auf den Tisch. Es geht eigentlich gar nicht darum, wer getötet hat oder warum. Es geht eher darum, dass es ihn gibt, diesen Mörder, dort draußen, im Dunkel, in der Nacht. Im Grunde ist der Prostituiertenkiller in „Dark Glasses“ der böse Wolf, wie sie es alle sind in den Filmen von Argento, diese Männer, die die schönen Frauen töten.

    Während sich Argento in seinem Werk, obgleich es von starken stilistischen Manierismen und persönlichen Obsessionen zusammengeschnürt ist, ohnehin nie einfach wiederholte, wirken die lediglich drei Filme, die er in den letzten 15 Jahren realisieren konnte, noch einmal deutlich zerschossener. Die radikale Entzauberung der magisch-romantischen Traumwelten seines wohl meistgeliebten Films „Suspiria“, die Hinwendung zu Brüchigkeit und Abstraktion in „Giallo“ oder der stereoskopische Digitalbarock in „Dracula 3D“, all das hatte durchaus seine Schönheiten und zeugte eben vor allem von einem Künstler, der wild entschlossen schien, alles außer schnödem Fanservice einmal auszuprobieren. Von jenem Teil seiner Fans, der von ihm im Grunde nach wie vor das „Suspiria“-Ripoff sehen will, hat sich Argento spätestens hier allerdings nachhaltig entfremdet – und auch die Ankündigung von „Dark Glasses“ wurde von allerlei Häme begleitet.

    Argento hat nichts verlernt

    Im Grunde ist das ein etabliertes Narrativ, das insbesondere das Spätwerk großer Horrorfilmemacher regelmäßig zu begleiten scheint: ein radikales, revolutionäres Frühwerk, dann ein jahrzehntelanger Abstieg, schließlich der beißende Spott gegenüber dem einstigen Meister, dessen frühere große Würfe vielleicht auch einfach nur dem Zufall oder begnadeten Mitarbeiter*innen geschuldet seien. Selbst das grundlegendste filmische Handwerkszeug scheint diesen gefallenen Meistern, zumindest dieser Lesart zufolge, irgendwann abhandengekommen zu sein – und je kultischer das Frühwerk verehrt wird, desto erbarmungsloser wird über spätere Arbeiten geurteilt. Man frage etwa nach bei amerikanischen Genrekollegen wie Tobe Hooper oder John Carpenter.

    Natürlich geht das alles so einfach nicht auf – und nicht jeder offensichtliche Bruch mit Erwartungshaltungen oder jede vermeintliche filmische Unzulänglichkeit ist damit zu erklären, dass der betreffende Filmemacher es halt nicht (mehr) besser kann. Gerade im Falle eines formal derart meisterhaften Regisseurs wie Argento liegt doch der Gedanke näher, es könnte sich um bewusste Brüche und Verfremdungstaktiken handeln – und „Dark Glasses“ zeigt nun, in seiner vergleichsweise klassizistischen Erzählweise und Inszenierung, dass Argento überhaupt nichts abhandengekommen ist. Gut, ein bisschen Budget vielleicht, gerade im Vergleich mit seinen auch im Kontext des italienischen Genrekinos seiner Zeit grotesk teuren Arbeiten der 70er- und 80er-Jahre – und auch Hauptdarstellerin Ilenia Pastorelli ist weniger eine Schauspielerin als vielmehr eine Präsenz, die Argento allerdings wiederum sehr effektiv auch als solche inszeniert.

    Ein Kunstwerk aus durchtrennten und durchbissenen Kehlen

    Gleichwohl funktioniert „Dark Glasses“ als Gesamtkunstwerk auf das Betörendste. Denn einerseits handelt es sich um die klassischste Arbeit Argentos seit „Sleepless“ (wenngleich „Dark Glasses“ der viel, viel schönere Film ist) – und andererseits eben auch gerade wieder nicht um eine bloße Selbstkopie. Die eigenständige Position im Kontext von Argentos Werk lässt sich recht gut anhand des Soundtracks von Arnaud Rebotini beschreiben. Zwar gibt es dort immer wieder Reminiszenzen an die berühmtesten Filmmusiken in Argentos Œuvre, nämlich die ProgRock-Soundtracks von Claudio Simonetti und seiner Band Goblin). Allerdings schafft Rebotini auch viel Raum für flächigere Ambient-Klänge, die die mitunter hypnotische, somnambule Grundstimmung von „Dark Glasses“ betonen.

    Die Nachttrunkenheit übernimmt insbesondere gegen Ende den Film ziemlich komplett, wenn sich gleich hinter den Toren der Stadt ein gefahrvolles Sumpfgelände voller Wasser- und Würgeschlangen auftut, die durchs Schilf gleiten – schwärzer als hier gleich neben der Metropole war der Wald auch in Argentos großem naturmystischen Meisterwerk „Phenomena“ nicht…

    Fazit: „Dark Glasses“ ist der Film in Argentos Spätwerk, auf den sich wohl endlich auch wieder die von den sperrigeren Schönheiten seiner jüngeren Filme entfremdeten Fans einigen können. Ob er zum würdigen Schlusspunkt für das Werk eines ganz großen Horrorfilmregisseurs wird oder doch den Auftakt zu einer weiteren aufregenden Werkphase bildet, bleibt abzuwarten. Aber auf alles, was da noch kommen mag, darf man sich freuen.

    Wir haben „Dark Glasses“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo der Film in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.

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